Mit keiner anderen Ballade hat sich Schiller soviel Zeit gelassen, mit keiner anderen, begleitet von kritischen Hinweisen Goethes, so geplagt wie mit den Kranichen des Ibycus. Die Mühe hat sich wohl gelohnt: Der Dichter hat keine bessere Ballade geschrieben. Sie bringt es auf 23 Strophen zu je acht Versen, in streng einheitlichem Metrum: vierhebige Jamben mit gleichmäßig wechselnden weiblichen und männlichen Kadenzen und gleichmäßigem Reimschema. Diese Uniformität führt nicht zur Eintönigkeit, weil das Geschilderte ungemein spannend, ja dramatisch ist: Ibycus ist auf dem Weg zu den Festspielen in Korinth, ein Kranichschwarm begleitet ihn; „in Poseidons Fichtenhayn“ (V. 11), also an geheiligter Stätte, wird er überfallen und ermordet. Sterbend bittet er die Kraniche, sie möchten seines „Mordes Klag“ (V. 47) erheben. Der Getötete wird gefunden, nach Korinth gebracht, dort betrauert; die Suche nach den Mördern erscheint aussichtslos. Das Folgende spielt im Theater: Ein Tragödienchor, der Chor der Eumeniden, der Rachegöttinnen, weckt Bewunderung und Schaudern der Zuschauer:
So schreiten keine irrdschen Weiber,
Die zeugete kein sterblich Haus!
Es steigt das Riesenmaaß der Leiber
Hoch über menschliches hinaus. (V. 101–104)
Sie deklamieren Verse über Unschuldige und Schuldige und kündigen die Aufklärung des Verbrechens an:
[…] wehe wehe, wer verstohlen
Des Mordes schwere That vollbracht,
Wir heften uns an seine Sohlen,
Das furchtbare Geschlecht der Nacht!
(V. 125–128)
Die Reaktion der ergriffenen Zuschauer wird beschrieben, da ertönt der Ruf:
„Sieh da! Sieh da, Timotheus,
Die Kraniche des Ibycus!“ – (V. 155 f.)
Einer der Mörder hat es seinem Mordgesellen zugerufen, als das Kranichheer über das Theater hinzog. Zu spät wird ihm bewusst, dass er sich und seinen Kumpanen mit diesem Ruf verraten hat.
Man reißt und schleppt sie vor den Richter,
Die Scene wird zum Tribunal,
Und es gestehn die Bösewichter,
Getroffen von der Rache Strahl. (V. 181–184)
Das Besondere des Gedichts ist nicht in erster Linie die Einheit von Lyrischem, Epischem und Dramatischem, auch nicht die erzählte Geschichte selbst. Die Idee, dass alle Schuld gesühnt wird, und zwar durch die Nemesis, findet zwar ihren angemessenen Ausdruck, aber darüber hinaus wird das ‚Werkzeug’ der Rachegöttin benannt: Es ist die Macht der das Verbrechen benennenden und seine Bestrafung erzwingenden Poesie. Nicht die als Eumeniden auftretenden Mitglieder des Chors bewirken, weil sie nun einmal da sind und klagen, dass scheinbar Zufälliges (der Kranichflug) in einen sinnvollen Zusammenhang gebracht wird mit der Situation im Theater, sondern das, was sie sagen, was der Dichter sie sagen lässt im weiten Rund, zieht die Kraniche, gleichsam planmäßig, an; und so wird die Poesie zur Sachwalterin der Parzen, demonstriert ihre Zuständigkeit bei dem Bemühen, eine aus den Fugen geratene Welt wieder zu ordnen. Das klingt noch, entsprechend dem Glauben an die mögliche Verbesserung schlechter Verhältnisse durch das Schöne, sehr optimistisch. Wenig später wird dieser Glauben, der ja schon nicht mehr mit der Wirksamkeit einer überirdischen Gerichtsinstanz rechnet, in Frage gestellt: Dann bleibt, wie es die Elegie Nänie sagt, nur noch das bloße Vorhandensein des Schönen als Klagelied über die Hinfälligkeit des Schönen; aber immerhin ist das auch „herrlich“ (Nänie, V. 13) und kann nicht ohne Wirkung bleiben.
© 2006 Philipp Reclam jun. Verlag Gmbh & Co., Stuttgart