Martin Schulze Wessel, geb. 1962, lehrt Osteuropäische Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er ist Sprecher der Graduiertenschule für Ost- und Südosteuropastudien und Direktor des Collegium Carolinum in München. Von 2012 bis 2016 war er Vorsitzender des deutschen Historikerverbands.
Frage an Martin Schule Wessel: Weshalb ist der Prager Frühling heute, fünfzig Jahre später, noch interessant?
Martin Schulze Wessel: Zwischen dem Prager Frühling und heute liegen zwei Zäsuren in Ost und West: der Untergang des Staatsozialismus 1989 und die globalen Finanzkrise von 2007. Angesichts dieser Umbrüche erscheint der Prager Frühling heute plötzlich wieder aktuell: Als Suche nach einem Weg zwischen Sozialismus und Kapitalismus, der im Jahr 1968 durch die sowjetische Intervention gewaltsam abgebrochen wurde, bevor ein neues Gesellschaftsmodell ausreifen konnte. Die Reformer von 1968 wollten den dogmatischen Sozialismus überwinden, ohne die westliche Gesellschaftsordnung zu kopieren. Dazu entwickelten sie neuartige politische Vorstellungen, die sie in den wenigen Monaten zwischen dem Januar und August 1968 jedoch nicht erproben konnten. Der Prager Frühling wurde also in seiner Zeit nicht widerlegt, er scheiterte nicht an sich selbst, sondern nur durch die sowjetische Intervention vom August 1968. Das wirft Fragen auf, die heute gerade jüngere tschechische Historiker bewegen: Was wäre gewesen, wenn…? Enthält der Prager Frühling nach dem Scheitern des Staatssozialismus und der Krise des Finanzkapitalismus ein Rezept für die Gegenwart?
Zweifellos sind die Bedingungen des Jahres 1968 nicht auf die Gegenwart übertragbar. Aber der Prager Frühling zeigt, wie eine Generation von Reformpolitikern gemeinsam mit Studenten, Wissenschaftlern, Intellektuellen und auch vielen Arbeitern Stück für Stück einen neuen Möglichkeitsraum erschlossen. Es gab in der Politik – und darin lag der atemberaubende Umbruch des Prager Frühlings – plötzlich keine Festlegungen mehr, die zuvor von der Partei mit Hilfe des Marxschen Historischen Materialismus zementiert worden waren. Die Politik war voller Alternativen und die Öffentlichkeit eignete sich die Diskussion über den richtigen Weg zu einer guten Gesellschaftsordnung an. Der Prager Frühling ist ein Lehrstück für die Regenerationskraft der Demokratie, darin beruht seine Aktualität.