Wer den Namen Theodor Storm (1817–1888) hört oder liest, hat vermutlich tosende Wellen und einen einsamen Reiter, niedrige Stuben in reetgedeckten Häusern und vielleicht auch eine graue Stadt am Meer vor Augen. Viele Werke des gebürtigen Husumers, allen voran die Novelle Der Schimmelreiter und das Gedicht Die Stadt, versetzen die Leserinnen und Leser an die Nordseeküste mit ihrer Deichlandschaft. Sie spielen in jener Gegend, in der Storm einen großen Teil seines Lebens verbrachte. Oft geben sie Stimmungen von dort wieder, nehmen Motive aus Geschichten auf, die sich die Küstenbewohner und -bewohnerinnen erzählten. Aber auch wenn ihm das gerne nachgesagt wird, ist Storm kein Heimatdichter. Vielmehr gehört er zu den wichtigsten Vertretern des poetischen Realismus.
Von Husum zum Eichfeld und zurück
Theodor Storm wurde am 14. September 1817 in eine gutbürgerliche Husumer Familie hineingeboren. Wie der Vater studierte er Rechtswissenschaften und begann in seiner Heimatstadt in dessen Fußstapfen zu treten. Den politischen Verhältnissen im Herzogtum Schleswig stand er kritisch gegenüber. Sie zwangen ihn dazu, zuerst nach Potsdam ins Exil zu gehen und ab 1856 in Heiligenstadt im thüringischen Eichsfeld als Richter zu arbeiten. Als Husum nach dem Deutsch-Dänischen Krieg 1864 an Preußen fiel und er zum Landvogt berufen wurde, kehrte er nach Husum zurück. Bis zu seinem Tod 1888 blieb Storm im Holsteinischen, wenn auch zuletzt nicht mehr in seiner Geburtsstadt. Er war etablierter Jurist und Verwaltungsbeamter, Ehemann und Familienvater, und er brannte für die Literatur.
Richter und Dichter
Die Liebe zum Schreiben entdeckte Theodor Storm früh, aber bis zum Ruhestand konnte er sich ihr nur in seiner Freizeit widmen. Trotzdem schuf er Werke, die ihn zu den bedeutendsten deutschen Dichtern machten. Während er selbst seiner Lyrik den Vorzug gab, blieb er vor allem als Novellendichter in Erinnerung. Allen voran sein letztes Werk Der Schimmelreiter (1888) zog die Menschen in Bann. Die Auseinandersetzung zwischen Fortschrittsglauben und Technikfeindlichkeit, der Kampf mit den Naturgewalten und der Umgang mit der übersinnlichen Welt behielten über die Generationen hinweg ihre Relevanz und Faszination.
Theodor Storm in Politik und Liebesleben
Storms Eltern waren bestens situiert. Sein Vater Johann Casimir Storm war Justizrat, seine Mutter Lucie, geborene Woldsen, entstammte einer angesehenen Patrizierfamilie. Husum lag im Herzogtum Schleswig und war damit Teil des Dänischen Gesamtstaats und des Konflikts um die Zugehörigkeit Schleswigs und Holsteins zu Dänemark oder zu Deutschland. Diese Spannungen sollten sich in den nächsten Jahrzehnten noch verschärfen und tief in Storms Leben eingreifen.
Nach Abitur und Jurastudium in Kiel und Berlin kehrte er 1843 in seine Heimatstadt zurück, obwohl er mit deren Enge zu kämpfen hatte. Zunächst arbeitete Storm als Rechtsanwalt in der Kanzlei seines Vaters, dann in eigener Praxis. 1846 heiratete er nach unglücklichen Erfahrungen mit anderen Frauen seine Cousine Constanze Esmach aus Segeberg. Mit der Juristentochter verbanden ihn die Liebe zur Musik, die gesellschaftliche Stellung und schließlich die gemeinsamen Kinder. Für ein erfülltes Eheleben reichte das alles nicht. Schon wenige Monate nach der Eheschließung begann Storm eine länger andauernde Beziehung mit der Husumer Holzhändlertochter Dorothea Jensen. Die Ehe blieb bestehen, die Geliebte wich – und kam viel später zurück.
Zwischen Husum und Heiligenstadt
Theodor Storm stand während der Schleswig-Holsteinischen Erhebung auf der Seite der Deutschgesinnten, die sich ab 1848 gegen die dänische Vorherrschaft auflehnten. Dies kostete ihn seine Zulassung als Rechtsanwalt und zwang ihn 1853 ins Exil nach Potsdam. Der Mann, von dem viele glauben, dass er sein ganzes Leben im Norden verbracht habe, wechselte drei Jahre später als Richter an das Kreisgericht ins thüringische Heiligenstadt.
Erst nach Ende des Deutsch-Dänischen Krieges 1864 kehrte Storm nach Husum und damit in die nun preußische Provinz Schleswig-Holstein zurück. Dort wurde er zum Landvogt und später zum Amtsrichter berufen. Kaum wieder zu Hause, verstarb Constanze Storm infolge der Geburt ihres siebten Kindes. Gut ein Jahr später heiratete Storm seine frühere Geliebte Dorothea Jensen. 1880 zog er sich in den Ruhestand und damit ins rund 60 Kilometer südlicher gelegene Hademarschen zurück. Es begann eine Zeit des Reisens und intensiven Schreibens, aber Ende 1886 erkrankte er an Magenkrebs und verstarb am 4. Juli 1888. Begraben wurde er in Husum, der grauen Stadt am Meer, die ihn nie losgelassen hatte.
Theodor Storm – ein Heimatdichter?
Er war keine Ausnahme: Wie die meisten Schriftsteller und Schriftstellerinnen begann Theodor Storm bereits in seiner Jugend zu schreiben. Erste Gedichte und Prosatexte wurden Mitte der 1830er Jahre in lokalen Zeitungen abgedruckt. Während seines Studiums und vor allem während des Potsdamer Exils kam er verstärkt in Kontakt mit der zeitgenössischen deutschen Literatur. Er befreundete sich mit Gleichgesinnten, darunter Theodor und Tycho Mommsen, und unterhielt intensive Briefwechsel, etwa mit Paul Heyse, Eduard Mörike und Theodor Fontane.
In Storms frühen Werken stand die spätromantisch geprägte Lyrik im Vordergrund. Ab 1848 und der Schleswig-Holsteinischen Erhebung wandte sich der Dichter mehr und mehr dem Realismus und der Novellenproduktion zu. Virtuos fing er die Stimmung der norddeutschen Landschaft ein, ihn aber – wie etwa im Nationalsozialismus geschehen – auf den Begriff »Heimatdichter« festzulegen, greift zu kurz. Naturerfahrung, Liebe und Vergänglichkeit nehmen einen breiten Raum ein, gleichzeitig übte Storm Kritik an der Ständegesellschaft, zeigte soziale und politische Missstände auf und zeichnete ein realistisches Bild vom Alltag der Menschen.
Storms Liebe zum Gespenstischen
Theodor Storm hörte schon in seiner Kindheit fasziniert den unheimlichen Geschichten zu, die ein Kindermädchen erzählte. Ähnlich wie die Brüder Grimm hat er mit den Brüdern Mommsen Sagen und Märchen aus dem Volk zusammengetragen, wobei sie sich auf die Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg beschränkten. Auch nach deren Veröffentlichung 1845 sammelte Storm weiter, zudem schrieb er selbst Märchen. Die Faszination für das Gespenstische, für Aberglauben und unerklärliche Kräfte begleitete ihn bis zum Lebensende, was in seinem letzten Werk, dem kurz vor seinem Tod 1888 erschienenen Schimmelreiter, deutlich zutage tritt.
Der Schimmelreiter
Nicht aus seiner Heimat, sondern wohl aus dem Weichselgebiet stammt die Geschichte von einem gespenstischen Reiter in einer Deichlandschaft. Storm hatte sie in jungen Jahren gelesen und nicht mehr vergessen. Zu den dargestellten Personen ließ er sich von realen Menschen aus seiner Heimat inspirieren, in der er die Novelle dann auch ansiedelte. Die Geschichte des Schimmelreiters Hauke Haien spielt in einer Zeit, in der sich die Industrialisierung Bahn bricht. Der Protagonist, der beim Deichbau neue technische Möglichkeiten umsetzen möchte, scheitert an der Feindseligkeit der Dorfbewohner, die sich gegen den Fortschritt wehren. In einer Welt voller Brüche verkörpert er einen Charakter, der ebenfalls voller Brüche steckt. So ist er einerseits liebevoller Ehemann und Vater, andererseits ein rücksichtsloser, ehrgeiziger Einzelgänger, der Menschen und Natur zu bezwingen versucht. Und er reitet einen geradezu teuflischen Schimmel, was ihn allein schon ins Dämonische entrückt.
Hauke Haien gehört zu den faszinierendsten Gestalten der deutschen Literatur. Der Schimmelreiter ist nicht aus dem Kanon der Schullektüren wegzudenken, wurde mehrmals verfilmt, als Hörspiel aufbereitet und für die Bühne bearbeitet. Robert Habeck und Andrea Paluch adaptierten ihn und verlegten ihn als Kriminalroman ins 20. Jahrhundert.
Paul Heyse an Theodor Storm
München, 2. Mai 1888
»Nur einen Glückwunsch, lieber Alter, zum Schimmelreiter. Ein gewaltiges Stück, das mich durch und durch geschüttelt, gerührt und erbaut hat. Wer machte Dir das nach! Ich lese es wieder in ruhigerer Zeit, heut‘ hab ichs nur atemlos durchgejagt, als säße ich selbst auf dem Gespenstergaul […].«
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