Sappho: Lyrikerin und erste weibliche Stimme der europäischen Literatur

Sappho wurde um 630 v. Chr. auf der griechischen Insel Lesbos geboren – in einer Zeit des politischen und gesellschaftlichen Umbruchs. Ihre Verse über Liebe, Verlangen, Enttäuschung und Verzweiflung berühren uns noch heute, und sie wirken beinahe wie moderne Poesie. Doch in der Antike hatten sie ihren festen Platz in der Erziehung von Mädchen. Sappho sang ihre Lieder zur Lyra, vielleicht begleitet vom chorischen Tanz.
Über Sapphos Leben gibt es wenig Gewissheit: Sie hatte drei Brüder, verbrachte einen Teil ihres Lebens im politischen Exil auf Sizilien, war verheiratet und Mutter einer Tochter, leitete einen Mädchenkreis, starb um 570 v. Chr. Für uns heute ist sie die erste authentische Stimme einer Frau in der westlichen Welt.


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Untergegangen sind der Mond

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der Nacht, vorbei geht die Zeit,

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Sappho, Liedfragment 168B


Sapphos Mädchenkreis

In der patriarchalen Welt des 6. Jahrhunderts v. Chr. gehörte die Frau ins Haus und wirkte in der Öffentlichkeit allenfalls als Priesterin. In ihrem Mädchenkreis bereitete Sappho die jungen Frauen der Führungsschicht von Lesbos und der umliegenden Inseln wie auch des nahen kleinasiatischen (heute türkischen) Festlands auf ihr Leben als Ehefrauen vor. Ziel war, sie zu einer alles umfassenden innerlichen wie äußerlichen Schönheit zu erziehen.
Und ein Mittel, die Dinge innerlich erlebbar zu machen, war es, von Themen zu singen wie: Liebe, Hochzeit, Kosmetik, dem anmutigen Leben im Kreis, Gesang, Musik, Chortanz, Geburt, dem Altern, dem Tod und dem Leben danach, aber auch zentralen Mythen und nahezu philosophischen Inhalten über die richtige Lebensweise. Auch homoerotische Schwärmereien und Zärtlichkeiten zwischen Sappho und einzelnen Mädchen wie auch zwischen den Mädchen untereinander waren ein Mittel. Die Liebe wurde religiös, ja sogar kosmisch überhöht, und die Erziehung sprach den Körper und alle Sinne an, damit die jungen Frauen die zentralen aristokratischen Werte der Schönheit, des Luxus und der Eleganz verinnerlichen konnten, um sich später immer wieder an sie zu erinnern.

Politik mit anderen Mitteln

Sappho gehörte dem Clan der Kleonaktiden an, die mit anderen Adelsclans damals um die Macht in der Inselhauptstadt Mytilene rivalisierten. Ganz grundsätzlich ging es darum, wie sich Lesbos in dieser Welt des Umbruchs verorten sollte: Sollte man sich gegenüber den Einflüssen von außen abgrenzen oder – im Gegenteil – den Verlockungen der neuen Welt öffnen (im nahegelegenen Lydien war eine Generation vorher das Geld erfunden worden?

Die Kleonaktiden standen für die Öffnung, den Handel, den kulturellen Austausch und damit auch für einen luxuriösen, eleganten Lebensstil. Was die Männer ihres Clans auf der Bühne der Politik und mitten auf der Agora betrieben, propagierte Sappho mit anderen, ihren Mitteln. Sie umgab schließlich geradezu ein Starkult, durch den sich die Dichterin für die damalige Zeit für Frauen ungeheure Freiräume erarbeiten konnte.