Brüder Grimm – eine Welt voller Märchen

Es waren einmal acht Brüder: Drei überlebten das Kleinkindalter nicht, einer wurde Bankangestellter, ein zweiter Maler und Radierer, die übrigen drei entwickelten eine besondere Leidenschaft für Märchen. Doch nicht alle fünf, sondern nur zwei gingen als »Brüder Grimm« in die Geschichte ein: die Sammler und Wissenschaftler Jacob und Wilhelm Grimm. Ihre Namen sind mit dem wohl bekanntesten aller Märchenbücher, den Kinder- und Hausmärchen, und dem umfangreichsten aller deutschen Wörterbücher, dem »Grimm«, verbunden.


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Die unzertrennlichen Brüder Grimm

Jacob Grimm (1785–1863) und Wilhelm Grimm (1786–1859) kamen in Hanau zur Welt und wuchsen als Söhne eines Amtmanns im hessischen Steinau an der Straße auf. Zur Schule gingen sie in Kassel, das Studium der Rechtswissenschaft absolvierten sie in Marburg. Dort begannen sie 1806 mit dem Sammeln von alten Märchen und Sagen. Dabei blieb es allerdings nicht. Vielmehr vertieften sie sich in die Entwicklung der deutschen Sprache und wurden auch dadurch zu Mitbegründern der Germanistik als Wissenschaft. 1840 holte sie der preußische König nach Berlin, wo sie bis zu ihrem Lebensende blieben – Wilhelm verheiratet und mit drei Kindern, Jacob ledig, aber immer zusammen.


In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat…


Anfang aus »Der Froschkönig«


Ein Buch voller Märchen

Die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm waren besessene Forscher und Sammler. Sie veröffentlichten eine Flut von wissenschaftlichen Publikationen, darunter ihr Hauptwerk, das Deutsche Wörterbuch. Weltweit in Erinnerung sind sie aber bis heute vor allem durch die Kinder- und Hausmärchen (zuerst 1812/15). Nach der Luther-Bibel ist es das am meisten verkaufte deutschsprachige Buch, zudem wurde es in über 160 weitere Sprachen übersetzt. 2005 hat die UNESCO die Kasseler Handexemplare, die zahlreiche handschriftliche Bemerkungen der Grimms enthalten, in das Weltdokumentenerbe aufgenommen.

»Die Grimm’schen Märchen wurden in über 160 Sprachen aller Erdteile übersetzt. Sie gleichen einem Hohlspiegel, der die durch mehrere Kulturen geprägten Märchentraditionen einfängt, in neuer Form zusammenfasst, bündelt und so zurückstrahlt, dass eine neue Tradition daraus erwächst und weltweite Wirkung entfaltet.«
Aus der Begründung der UNESCO zur Aufnahme der Kinder- und Hausmärchen in das Weltdokumentenerbe 2005

Die Brüder Grimm – alles andere als Juristen

Sie stammten aus einer kultivierten Familie, Großvater und Urgroßvater waren Geistliche, der Vater Philipp Wilhelm Grimm war Jurist und Amtmann. Als Jacob und Wilhelm geboren wurden, lebte die Familie in Hanau, zog aber 1791 aufgrund der Versetzung des Vaters nach Steinau an der Straße um. Viel Zeit mit ihm sollte den Kindern nicht vergönnt sein, nur fünf Jahre später verstarb er. Die Mutter schickte die beiden Ältesten, Jacob und Wilhelm, zu ihrer Tante nach Kassel, wo sie das Gymnasium besuchen konnten. Im Anschluss gingen sie nach Marburg, um Rechtswissenschaft zu studieren.

Statt den Gesetzeswerken wandten sich die beiden aber lieber der Dichtung zu. Dabei interessierten sie – ganz Kinder ihrer Zeit – auch die gerade wiederentdeckten mittelhochdeutschen Werke. Im Unterschied zu anderen untersuchten sie anhand der Texte die Entwicklung von Literatur und Sprache und bezogen andere Länder mit ein. Zudem begannen sie zusammen mit Gleichgesinnten, Märchen und Sagen zu sammeln, die bisher nur mündlich überliefert waren. Erste Veröffentlichungen folgten, die Brüder wurden nicht zu Juristen, sondern zu Sachwaltern der Literaturgeschichte und den Mitbegründern der deutschen Philologie.

Die Grimms in Kassel

Jacob und Wilhelm zog es nach beruflich bedingtem Hin und Her wieder nach Kassel, wo von 1805 bis zu ihrem Tod 1808 auch die Mutter wohnte. Wilhelm, der gesundheitlich angeschlagen war, fand ebenso wie ein Jahr später sein Bruder eine Anstellung an der dortigen Bibliothek. Bis 1822 wurden sie von ihrer Schwester Charlotte umsorgt, die sich zu einer wichtigen Ansprechpartnerin entwickelte. 1825 heiratete Wilhelm die Kassler Apothekertochter Henriette Dorothea Wild, die ebenso wie ihre Mutter und Schwestern zahlreiche Märchen zur Grimm‘schen Sammlung beisteuerte. Während des beschaulichen Dienstes in der Bibliothek und in ihrer Freizeit hatten die Brüder genug Muße, um sich ausgiebig ihren Studien zu widmen. Es war ihre wohl produktivste Lebensphase.


Und wenn sie nicht gestorben sind …

1830 wechselten Jacob und Wilhelm Grimm nach Göttingen, wo sie Professuren und Bibliotheksanstellungen erhielten. Nachdem sie in der Gruppe der »Göttinger Sieben« 1837 gegen die Aufhebung der liberalen Verfassung durch den König von Hannover protestiert hatten, verloren sie ihre Stellen und kehrten abermals nach Kassel zurück. 1840 wurden sie schließlich an die Preußische Akademie der Wissenschaften berufen und zogen nach Berlin um. Beide hielten Vorlesungen an der dortigen Universität und nahmen am Vorparlament zur Vorbereitung der Frankfurter Nationalversammlung teil, zu der Jacob dann 1848 als parteiloser Abgeordneter entsandt wurde. In Berlin wohnten Jacob und Wilhelm Grimm erneut zusammen und arbeiteten Tür an Tür. Nach ihrem Tod wurden sie nebeneinander in Ehrengräbern des Landes Berlin beigesetzt. Und wenn sie nicht wirklich gestorben sind, sammeln und forschen sie vermutlich noch immer in schönster Eintracht.

Sammelleidenschaft und Wissenschaft: Kinder- und Hausmärchen

Märchen werden in aller Welt erzählt und das möglicherweise schon so lange, wie die Menschheit ihre Sprache gefunden hat. Die Erzählungen von Prinzessinnen und Prinzen, Zauberern, bösen Stiefmüttern, Drachen und sprechenden Gegenständen faszinieren seit jeher Jung und Alt. Die Brüder Grimm wollten dem auf den Grund gehen und die mündlich überlieferten Texte systematisch erfassen, wissenschaftlich dokumentieren und für die Nachwelt sichern. Sie waren nicht die ersten, aber vermutlich die gründlichsten Sammler und die, die einen wissenschaftlichen Kommentar mitlieferten.

Bei ihrer Suche beschränkten sie sich nicht auf ihre hessische Heimat, viele Märchen stammen von befreundeten hugenottischen und westfälischen Familien, darunter der Familie Annette von Droste-Hülshoffs. Im Dezember 1812 und 1815 brachte der Berliner Verleger Georg Reimer in seiner Realschulbuchhandlung die beiden Bände der ersten Ausgabe der Kinder- und Hausmärchen heraus. Sie war nur mäßig erfolgreich. Erst mit der zweiten Auflage von 1819/22, zu der ihr Bruder Ludwig Emil zwei Illustrationen beisteuerte, begann der weltweite Siegeszug der Grimm‘schen Märchen.


Zum Selberentdecken und Verschenken


Eine nahezu unendliche Geschichte: das Deutsche Wörterbuch

Das Sammelpensum und die Interessen von Jacob und Wilhelm Grimm erschöpften sich nicht mit Märchen oder Heldensagen. Einen weitaus größeren Raum nahmen ihre Arbeiten zu Grammatik und Wortschatz der deutschen, aber auch anderer Sprachen ein. Das Werk, das gern mit »Der Grimm« bezeichnet wird, ist das wohl umfangreichste und gründlichste neuhochdeutsche Wörterbuch, das es je gegeben hat. Zudem ist es das am längsten bearbeitete, denn die Tätigkeit daran begann 1838 und endete erst 1961, wobei sich schon bald eine Neubearbeitung der ersten drei Bände anschloss. »Der Grimm« (abgekürzt: DWB) umfasst 16 Bände in 32 Teilbänden mit mehr als 300 000 Stichwörtern und 67 744 Spalten. Als Jacob und Wilhelm Grimm nach ihrer Entlassung aus Göttingen mit der Arbeit begannen, schwebte ihnen ein Wörterbuch vor, »das auf dem geebneten Grunde historischer Sprachforschung ruhend eine weit vollere und lebendigere Sammlung aller deutschen Wörter veranstalten soll, als sie noch stattgefunden hat«. Sie konnten nicht ahnen, dass aus den veranschlagten 10 Jahren rund 123 werden sollten und sie selbst nach 25 Jahren, zum Zeitpunkt von Jacob Grimms Tod und damit dem Ende ihrer Arbeit daran, erst beim Wort »Frucht« angekommen sein würden.