Mary Shelley – so unkonventionell wie kreativ

Die englische Schriftstellerin Mary Shelley (1797–1851), geborene Godwin, könnte einem Abenteuerroman entsprungen sein, so unkonventionell, aufregend und tragisch verlief ihr Leben. Während eines Aufenthalts am Genfer See bei Lord Byron und mitten in einer Klimakatastrophe verfasste sie den Roman Frankenstein; or, The Modern Prometheus (dt. Frankenstein oder Der moderne Prometheus. Sie schuf damit eines der berühmtesten Monster der Literatur- und Filmgeschichte. Es war ihr wichtigstes Werk, aber bei weitem nicht das einzige.


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Ein Leben außerhalb gesellschaftlicher Normen

Die Tochter der Autorin und Frauenrechtlerin Mary Wollstonecraft (1759–1797) und des politischen Schriftstellers William Godwin (1756–1836) entwickelte sich nicht zuletzt dank ihrer vielfältigen Bildung zu einer Frau, die die Grenzen des Konventionellen immer wieder durchbrach. Sie trat für die freie Liebe ein und brannte als 16-Jährige mit dem Dichter Percy Bysshe Shelley durch, den sie später heiratete. Immer von Geldsorgen begleitet, reisten die beiden durch Frankreich, die Schweiz und Italien. Nach dem tragischen Tod ihres Mannes entschied sich Mary Shelley, die nie wieder heiratete, als Schriftstellerin zu leben.

Mary Shelley – Pionierin in der Welt der Romane

Ihre Mutter gilt als Verfasserin des ersten feministischen Werks der Weltliteratur, ihr Vater als Verfasser des ersten modernen anarchistischen Werks. Mary Shelley stand ihren Eltern in nichts nach. 1818 veröffentlichte sie mit Frankenstein; or, The Modern Prometheus jenes Werk, das als erster Science-Fiction-Roman der Weltliteratur angesehen wird, und 1826 mit The Last Man (dt. Der letzte Mensch) die erste Dystopie. Frankenstein war ihr Debütroman, doch Mary Shelley war bis zu ihrem Lebensende eine höchst produktive Autorin. Romane, Novellen, Gedichte, Reisebeschreibungen, Biografien – sie bediente viele Genres. Allerdings wurde sie lange Zeit vor allem als Ehefrau Percy B. Shelleys und Herausgeberin seiner Werke wahrgenommen.

Eine schreibende Familie

Ihre Eltern waren fünf Monate verheiratet, als Mary Godwin am 30. August 1797 in London zur Welt kam. Wenige Tage später verstarb ihre Mutter Mary Wollstonecraft-Godwin am Kindbettfieber. Ihr Vater William Godwin stand nun mit dem Baby sowie der Stieftochter Fanny aus einer früheren Beziehung seiner Frau alleine da. 1801 heiratete er ein zweites Mal, doch für seine Tochter Mary sollte die leibliche Mutter zum Fixstern werden.

Mary Wollstonecraft führte ein ebenso ungewöhnliches Leben wie später ihre Tochter. Unter anderem hielt sie sich während der Schreckensherrschaft der Jakobiner für mehrere Jahre in Paris auf, wo sie ihr bekanntestes Werk A Vindication of the Rights of Woman (1792, dt. Die Verteidigung der Frauenrechte) verfasste.

William Godwin war als Romanautor und philosophisch-politischer Schriftsteller tätig. In seinen Abhandlungen, insbesondere in seinem Hauptwerk An Enquiry Concerning Political Justice (1793, dt. Über die politische Gerechtigkeit), entwickelte er Ideen, die ihn zum Begründer des Anarchismus machten. Seinen Kindern ließ er eine unkonventionelle Erziehung und breitgefächerte Bildung zukommen. Sie wurden von ihm unterrichtet und zum Schreiben angehalten, außerdem durften sie sich aus seiner Bibliothek bedienen. Die Godwins bewegten sich in einem Umfeld von Intellektuellen und Gelehrten, kämpften aber mit erheblichen finanziellen Nöten.

Ehe ohne Trauschein: Mary Godwin und Percy B. Shelley

Unter den Anhängern von William Godwin befand sich Percy Bysshe Shelley (1792–1822), der wie er ein Verfechter des Anarchismus war. Als Shelley Godwins Tochter Mary begegnete, verliebten sich die beide ineinander. Ungeachtet der Tatsache, dass er bereits verheiratet und sie erst 16 Jahre alt war, reisten sie zusammen mit Mary Godwins Stiefschwester Claire Clairmont über Paris in die Schweiz. Zurück in England lebten sie gemeinsam in London, und Mary Godwin brachte ein Kind von Shelley zur Welt, das aber wenig später verstarb.

Im Mai 1816 machte sich das Paar mit Claire Clairmont erneut auf die Reise in die Schweiz. Dieses Mal besuchten sie in Cologny am Genfer See Lord Byron. Es war das »Jahr ohne Sommer«, in dem das Wetter katastrophal war und die Besucher im Haus hielt. Statt Ausflüge zu machen, schrieben und erzählten sie sich Schauergeschichten, was für die Literaturgeschichte und Mary Godwin nicht ohne Folgen blieb.

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1816: das »Jahr ohne Sommer«? Große Teile Europas und Nordamerikas erlebten selbst im Sommer Nachtfröste und teilweise Schnee, dazu verheerende Unwetter und Überschwemmungen. Auf deutschem Boden war besonders das Gebiet nördlich der Alpen betroffen, und auch die Schweiz hatte schwer zu leiden. Die Folge waren unter anderem Missernten und Hungersnöte, der Ausbruch von Seuchen und soziale Unruhen, aber auch sensationelle Sonnenuntergänge. Grund für das ungewöhnliche Wetter war vor allem der Ausbruch des indonesischen Vulkans Tambora im Jahr 1815. Mit einer Stärke von 7 auf dem 8-stufigen Vulkanexplosivitätsindex schleuderte er eine ungeheure Menge Staubpartikel in die Atmosphäre. Durch Höhenwinde wurden diese über die Nordhalbkugel getragen, wo sie die Sonneneinstrahlung negativ beeinflussten.


Frankenstein wird zum Leben erweckt

Die Freunde um Lord Byron beschlossen angesichts des katastrophalen Sommerwetters, zum Zeitvertreib Schauergeschichten zu schreiben und sie sich gegenseitig vorzulesen. Dabei hatte Mary Shelley die Idee zu Frankenstein; or, The Modern Prometheus. Was zunächst als Kurzgeschichte gedacht war, entwickelte sie wenig später zu ihrem Debütroman. 1817 stellte die erst 20-Jährige ihn fertig, im Januar 1818 veröffentlichte sie ihn anonym. Zunächst galt Percy B. Shelley als Autor, aber schon nach wenigen Monaten gab sie sich zu erkennen.

Vor allem in der Anfangszeit stieß er bei den Kritikern auf gemischte Reaktionen. Heute gilt Frankenstein, der mehrfach verfilmt und für das Theater inszeniert wurde, als einer der bedeutendsten Romane der englischen Literatur, Meisterwerk der gothic novels und erster Science-Fiction-Roman weltweit.

Frankenstein und das Monster

Der Student Victor Frankenstein, der sich mit Naturwissenschaften und Alchemie beschäftigt, erschafft aus toter Materie ein menschenähnliches Geschöpf. Dieses sieht derart monsterhaft aus, dass sein Schöpfer flieht und es sich selbst überlässt. Nach Jahren trifft Frankenstein dieses Geschöpf wieder. Zwar hat es sich autodidaktisch weiterentwickelt und sich eine enorme Bildung angeeignet, aber es wird aufgrund seines Aussehens von den Menschen abgelehnt. Die daraus resultierende Einsamkeit und die Vernachlässigung durch seinen Schöpfer haben das Böse in ihm wachgerufen. In der Folge rächt sich das namenlose Wesen grausam an Frankenstein und dessen Familie.

Frankenstein, aus Kapitel 10

Frankenstein trifft nach vielen Jahren sein Geschöpf wieder. Es bemüht sich um dessen Zuwendung:

»Wie kann ich dich erweichen? Kann kein Flehen dich bewegen, auf dein Geschöpf, das deine Güte und Barmherzigkeit anfleht, ein mitleidiges Auge zu werfen? Glaub mir, Frankenstein, ich war gutherzig, Liebe und Menschlichkeit erfüllten meine Seele, aber bin ich nicht allein, jämmerlich allein? Du, mein Schöpfer, verabscheust mich. Was habe ich dann von deinen Mitmenschen zu erwarten, die mir nichts schuldig sind? Sie verachten und hassen mich. Wüstengebirge und öde Gletscher sind meine Zuflucht. Seit vielen Tagen wandere ich hier umher; Eishöhlen, die nur ich nicht fürchte, sind meine Wohnung, die einzige, die die Menschen mir nicht missgönnen. Ich grüße diesen trostlosen Himmel, denn er ist gütiger zu mir als deine Mitmenschen. Wenn die gesamte Menschheit von meiner Existenz wüsste, würden sie es nicht anders machen als du und sich zu meiner Vernichtung wappnen. Wie soll ich da nicht die hassen, die mich verabscheuen?«

 

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Taschenbuch 10,00 €

Mary Shelley – Todesfälle und literarisches Leben

Tief verschuldet flohen Mary und Percy B. Shelley nach der Veröffentlichung von Frankenstein 1818 nach Italien. Dort starben ihre beiden Kinder Clara und William, doch im November 1819 wurde Percy Florence (1819–1889) geboren, das einzige Kind, das seine Eltern überlebte. Im 16. Juni 1822 erlebte Mary Shelley eine Fehlgeburt, und am 8. Juli kam Percy B. Shelley bei einem Schiffsunglück vor der Küste von Viareggio um. Seine Witwe blieb ein weiteres Jahr in Italien und ließ sich schließlich als freie Schriftstellerin in England nieder.

Trotz der Schicksalsschläge waren die Jahre in Italien für Mary Shelley von großer Produktivität. So schrieb sie neben Novellen und Theaterstücken den Roman Valperga. Zurück in England widmete sie sich dem literarischen Nachlass ihres verstorbenen Mannes. Sie sorgte dafür, dass sein Werk in weiten Kreisen bekannt wurde, doch auch ihr eigenes Schreiben vernachlässigte sie nicht. 1826 erschien ihr Roman The Last Man (dt. Der letzte Mensch), der im Jahr 2089 spielt. England ist darin eine Republik, und die Welt wird von einer tödlichen Pandemie heimgesucht. Weitere Romane, zahlreiche Erzählungen, fünf Bände einer Enzyklopädie und Reisebeschreibungen folgten.

Als ihr Sohn 1848 heiratete und Mary Shelley zu dem jungen Paar auf den Familiensitz der Shelleys in Sussex zog, schienen sorglosere Jahre anzubrechen. Doch schon seit einiger Zeit litt die Autorin unter gesundheitlichen Einschränkungen, die auf einen Gehirntumor deuten. Am 1. Februar 1851 starb sie in London.