Unter Homers Namen werden die beiden wohl meistgelesenen Epen der Welt gefasst: Ilias und Odyssee. Die Frage aber, ob es ihn überhaupt gab, wurde schon in der Antike laut. Vor der Mitte des 8. Jahrhunderts v. Chr. wurden die Inhalte der beiden Epen mündlich tradiert, vorgetragen von Rhapsoden bei Gastmählern, Festen und Wettkämpfen. Kurz nach Entstehen der griechischen Schrift wurden sie dann verschriftlicht, oder es wurde zumindest damit begonnen. Viele glauben heute aber nicht mehr an den einen Autor beider Epen.
Die Homerische Frage
Falls es einen Autor »Homer« gab, so wissen wir nicht viel über ihn. Seine genaue Lebensspanne und sein Herkunftsort (Kleinasien?) sind genauso fraglich wie sein Aussehen oder ob er blind war, wie es sich viele Spätere vorstellten. Vielleicht war er selbst ein Rhapsode, wie die fahrenden Sänger genannt wurden – oder nur ein Sammler und eine Art Redakteur? Oder sind es mehrere Autoren gewesen, die an den beiden Epen über einen längeren Zeitraum geschrieben haben? Auf die »Homerische Frage« wird es wohl nie eine Antwort geben, die alle zufriedenstellt.
Ein Reflex historischer Ereignisse?
Ähnlich reizvoll wie die Spekulationen über ihren mutmaßlichen Autor ist die Suche nach historischen Hintergründen einzelner Inhalte von Ilias und Odyssee. Für die Ilias sind dies vor allem der Zusammenbruch der mykenischen Palastkultur, für die etwa fünfzig Jahre später anzusetzende Odyssee die Erfahrungen der griechischen Kolonisation im Mittelmeerraum. Man muss nicht auf Schliemanns Spuren durch die Troja-Grabung stapfen, um Homer zu finden: Schon eine Beschäftigung mit seiner mutmaßlichen Zeit, der zweiten Hälfte des 8. und der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts v. Chr. sowie den genannten, vorher anzusetzenden Phänomenen bereichert die Lektüre ›seiner‹ Epen.
Singe den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus,
Ihn, der entbrannt den Achaiern unnennbaren Jammer erregte,
Und vielʼ tapfere Seelen der Heldensöhne zum Aïs
Sendete, aber sie selber zum Raub ausstreckte den Hunden,
Und dem Gevögel umher …
Anfang der Ilias in der Übersetzung von Johann Heinrich Voß