Immanuel Kant – die »kopernikanische Wende« der abendländischen Philosophie

Immanuel Kant (1724–1804) ist einer der bedeutendsten Philosophen des Abendlandes: Er ist einer der wichtigsten Protagonisten der Epoche der Aufklärung, legt die Grundlagen der modernen Erkenntnistheorie, gibt der Ethik eine von der Religion und vom Glauben losgelöste Basis und gilt als Begründer des deutschen Idealismus. Das müssen sogar seine Gegner anerkennen: Kant »gilt allgemein als der größte moderne Philosoph. Ich selbst teile diese Ansicht nicht, doch wäre es töricht, seine große Bedeutung nicht anzuerkennen« (Bertrand Russell). Seinen Schriften zur Aufklärung liegt die Annahme zugrunde, dass jeder Mensch mit Verstand ausgestattet ist. Sie sind durch Leitsätze wie »Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!« noch nach über 150 Jahre bekannt, und sein kategorischer Imperativ: »Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne«, ist noch heute als Grundlage des menschlichen Miteinanders aktuell.

Seine drei Hauptwerke sind die Kritik der reinen Vernunft, die Kritik der praktischen Vernunft und die Kritik der Urteilskraft. Daneben hat er sich allerdings auch mit lebenspraktischen Fragen beschäftigt, woraus Schriften wie die Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in der er sich auch Alltagsfragen widmet, sowie Über die Pädagogik entstanden sind. Für ihn muss die Philosophie folgende Fragen beantworten, die auch ihn ein Leben lang umgetrieben haben: 1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was darf ich hoffen? Und 4.: Was ist der Mensch? In seinen Schriften und Vorlesungen, die er als Professor für Logik und Metaphysik an der Universität Königsberg hielt, versucht er zeitlebens, diese Fragen zu beantworten.


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Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Anleitung eines anderen zu bedienen. Selbst verschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen.


Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?


Laufbahn und frühe Schriften zu Naturwissenschaft und Naturphilosophie

Der 1724 im preußischen Königsberg (heute: Kaliningrad) geborene Immanuel Kant hat bereits durch sein Elternhaus gute Grundlagen für seine Gelehrtenlaufbahn mit auf den Weg bekommen: Zwar stammte er aus einer Familie von Sattler- und Riemenmeistern, seiner pietistischen Mutter war aber Bildung wichtig, so dass Immanuel 1732 mit acht Jahren ans Collegium Fridericianum kam, eine höhere Schule, die auf das Studium hinführen sollte. Das Studium begann Kant 1740 an der Albertus-Universität Königsberg, wo er für Philosophie eingeschrieben war, aber auch Vorlesungen in Naturwissenschaft, Naturphilosophie und Mathematik besuchte. Es ist also nicht verwunderlich, dass Kants erste Schriften eher naturwissenschaftlich sind, wobei er sich bereits mit diesen im Widerspruch zu den pietistischen Positionen seines Lehrers befand.

Seine akademische Laufbahn wurde durch den Tod des Vaters 1746 unterbrochen, da er nun auch für den Lebensunterhalt von zwei seiner (jüngeren) Geschwister verantwortlich war. Aus diesem Grund arbeitete er bis 1753 als Hauslehrer, blieb aber als Student der Philosophie immatrikuliert. 1754 kehrte er zurück, schloss sein Studium ab und erhielt kurz darauf die Lehrbefugnis an der Universität. Seine faszinierende Allgemeinbildung können wir schon hier an den Fächern, die er lehrte, erkennen: neben Logik, Metaphysik und Moralphilosophie waren das Natürliche Theologie, Mathematik, Physik, Mechanik, Geographie, Anthropologie, Pädagogik und Naturrecht. Als Hochschullehrer muss er stets geistreich und nie langweilig gewesen sein. Einer seiner berühmtesten Studenten, Johann Gottfried Herder, spricht später »mit dankbarer Freude« von seinen Vorlesungen, die »das eigene Denken auf[weckten]« – wenn das einer der Köpfe des »Weimarer Viergestirns« sagt, dann will das auf jeden Fall etwas heißen!

In dieser Zeit veröffentlichte Kant verschiedene naturwissenschaftliche Schriften, z. B. über die Erdrotation und das Gravitationsgesetz. Außerdem formulierte er bereits im Jahr 1755 eine Theorie über die Entstehung der Planeten und des Universums aus einem Urnebel, die später als Kant-Laplace-Theorie berühmt wurde und in ihren Grundzügen heute durch neuere astronomische Kenntnisse als bestätigt gilt.

Doch Kant war auch zielbewusst und wählerisch: In den folgenden 15 Jahren lehnte er verschiedene Rufe als Professor ab, bis er 1770 endlich den erhielt, den er immer wollte, nämlich als Professor für Logik und Metaphysik an der Universität Königsberg.

Was kann ich wissen? – Die Kritik der reinen Vernunft

Die Kritik der reinen Vernunft (1781; veränderte Ausgabe 1787) gilt als Hauptwerk der Kant’schen Philosophie und gemeinsam mit den anderen beiden Kritiken als die »kopernikanische Wende« in der Philosophiegeschichte. Sie versucht die Antwort auf die Frage: »Was kann ich wissen?« zu geben.

Doch was ist das Aufsehenerregende an diesem Buch? Kurz gesagt, ist es Kants Versuch, zwei damals sich unversöhnlich gegenüberstehende philosophische Schulen – den Empirismus und den Rationalismus – in seiner Erkenntnistheorie zusammenzubringen. Der Konflikt zwischen diesen Strömungen kommt vor allem durch die gegensätzlichen Positionen zur Erkenntnistheorie zustande:

  • Der Empirismus ist davon überzeugt, dass die Grundlage der Erkenntnis das ist, was wir durch die Sinne wahrnehmen und anschließend mit dem Verstand reflektieren. Alle rationalen Begriffe und Ideen benötigen demnach die Erfahrung als Ausgangspunkt.
  • Der Rationalismus dagegen sieht es genau andersherum: Er geht davon aus, dass alle Erkenntnis von der Vernunft ausgeht. Die Wahrnehmung durch die Sinne wertet er als täuschungsanfällig ab, Erfahrung muss durch die Vernunft bewertet und geordnet werden.

Kants großes Verdienst ist es, dass seine Erkenntnistheorie ein Gleichgewicht zwischen beiden zugrunde legt, das er selbst so formuliert: »Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.« Er meint damit, dass die Sinne sehr wohl eine Erkenntnisquelle sind, weil sie das Material für den Verstand liefern. Andererseits benötigen wir die Vorstellungen und Begriffe des Verstandes, um die Erfahrungen richtig einordnen zu können. Das beste Beispiel sind die Naturgesetze: Wir sehen deren Auswirkungen in der Natur, aber aus der bloßen Beobachtung können wir sie nicht verstehen – sonst würden wir noch immer glauben, dass sich die Sonne bewegt und nicht die Erde. Andersherum gelangen wir zur Erkenntnis der Naturgesetze nur dann, wenn wir durch Beobachtung unsere Begriffe und Ideen einer Prüfung unterziehen. Ansonsten könnten wir uns die klügsten Vorstellungen machen, die aber mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben.

Anders formuliert: Die Sinneseindrücke und Erfahrung liefern eine Menge an Material, aus dem der Verstand dann das Passende aussucht und daraus Begriffe ableitet. Die Vernunft schließlich ordnet diese Begriffe, weil sie in der Lage ist, nach Prinzipien zu denken.

Doch warum spricht er von der »reinen Vernunft«? Die reine Vernunft ist für ihn die Fähigkeit des Menschen, ohne Rückgriff auf Erfahrungen zu Erkenntnissen zu gelangen – rein, weil sie auf sich selbst angewiesen ist. Diese Erkenntnisse werden »a priori« genannt, da ihre Wahrheit ohne Überprüfung in der Erfahrung feststellbar ist. Zu ihnen gehören die Kategorien Kausalität und Notwendigkeit. Sie sind gewissermaßen die Brille, durch die wir die Erscheinungen in der Welt beurteilen.


Der Mangel an Urteilskraft ist eigentlich das, was man Dummheit nennt, und einem solchen Gebrechen ist gar nicht abzuhelfen.


Kritik der reinen Vernunft


Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? – Die Kritik der praktischen Vernunft

Das zweite Hauptwerk Kants, die Kritik der praktischen Vernunft (1788) ist eine Theorie der Moralphilosophie oder Ethik, die bis heute als eines der wichtigsten Werke der Praktischen Philosophie gilt. Grundlage sind die Erkenntnisse der Kritik der reinen Vernunft, die es erlauben, ein theoretisches Fundament für das ethisch richtige Handeln zu legen.

Zentraler Punkt dabei ist der bekannte Kategorische Imperativ, der in verschiedenen Formulierungen immer wieder im Werk auftaucht und im Grundsatz lautet:

»Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.«

Dieser Grundsatz der Verallgemeinerbarkeit erscheint uns vielleicht nicht revolutionär, ist es aber durchaus: Mit ihm verabschiedet sich Kant von dem, was bisher als Grundlage moralischen Handelns gegolten hatte, und zwar entweder das moralische Gefühl oder der Wille Gottes, wie es die Theologie lehrt, oder das Streben nach Glück als dem höchsten Gut des Menschen, das schon in der antiken Philosophie eine zentrale Rolle spielt.

Mit der Kritik der praktischen Vernunft formuliert Kant eine Pflichtethik, die auf Vernunft basiert. Sie stellt den Menschen als autonomes, moralisches Wesen in den Mittelpunkt – und legt damit das Fundament für die moderne Ethik und Menschenwürde.


Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.


Schlusssatz der Kritik der praktischen Vernunft


Kants Beitrag zur Ästhetik: Die Kritik der Urteilskraft

Mit seiner dritten Kritik, der Kritik der Urteilskraft, leistet Kant einen wichtigen Beitrag zu einer philosophischen Disziplin, die überhaupt erst im 18. Jahrhundert entstanden ist: der Ästhetik. Sie befasst sich ursprünglich mit der Theorie der Sinneswahrnehmung, die im Lauf des 18. Jahrhunderts langsam von einer der Vernunft und dem Verstand komplett untergeordneten Kategorie zu einer möglichen Quelle von Erkenntnis aufgewertet wurde. Ab 1750 entstehen dann zahlreiche Schriften zur ästhetischen Theorie, die immer mehr zu einer Theorie der Kunst wird, da die Kunst mit den Sinnen wahrgenommen wird.

Kant sieht in der Urteilskraft die vermittelnde Instanz zwischen theoretischer Vernunft und praktischer Vernunft und damit zwischen Natur und Freiheit. Zentral hierbei ist das Geschmacksurteil, das er folgendermaßen definiert:

»Geschmack ist das Beurteilungsvermögen eines Gegenstandes oder einer Vorstellungsart durch ein Wohlgefallen, oder Missfallen, ohne alles Interesse. Der Gegenstand eines solchen Wohlgefallens heißt schön.«

Indem etwas beurteilt wird, ohne dabei irgendeine Form der Zweckmäßigkeit im Sinn zu haben, also ein interesseloses Urteil gefällt wird, wird zwischen Sinnlichkeit und Moral vermittelt. Die behandelten Themen in der Kritik der Urteilskraft sind

  • der Geschmack
  • die subjektive Allgemeinheit: Das Geschmacksurteil ist zwar subjektiv, trotzdem erheben wir den Anspruch, dass es allgemeingültig ist und werden dafür im Zweifelsfall auch Argumente finden (müssen)
  • das Schöne und das Erhabene, die zwei zentralen Kategorien der ästhetischen Theorie
  • das Genie, das eine natürliche Begabung hat, dank der es der Kunst die Regeln vorgibt

Mit seiner Analyse des Ästhetischen hat Kant nicht nur Zeitgenossen wie Friedrich Schiller stark beeinflusst, sondern die Kunsttheorie bis heute.


Über Kant


Blick hinter die Kulissen I: Probleme mit der Zensur

Wie es ja meist der Fall ist bei revolutionären Denkern, so war es auch bei Kant: Seine Ideen sind nicht überall auf Begeisterung gestoßen. Bereits seine erste Schrift, Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte (1746) vertrug sich nicht gut mit den Überzeugungen seines pietistischen Lehrers an der Universität. Deshalb hat Kant die eigentlich als Dissertation in lateinischer Sprache geplante Abhandlung am Ende als Streitschrift auf Deutsch veröffentlicht. Überhaupt wandte sich Kant als guter Aufklärer zunehmend vom Pietismus des Elternhauses und von der gängigen Religion ab, was zu einem immer heftigeren Konflikt mit der Zensurbehörde führte. Nachdem er in seiner Schrift Über das Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee (1791) dargelegt, dass die Existenz des Bösen in der Welt aus philosophischer Sicht unmöglich mit den klassischen Attributen Gottes in Einklang zu bringen ist, ist er endgültig im Visier der Zensur. 1794 schließlich wird ihm nach der Veröffentlichung der Religionsschrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793) die »Herabwürdigung mancher Haupt- und Grundlehren der Heiligen Schrift und des Christentums« vorgeworfen und verboten, weiter in diesem Sinn zu veröffentlichen. Zwar lehrt er noch bis 1796 an der Universität, allerdings mit der Auflage, nicht über religiöse Fragen zu sprechen.

Blick hinter die Kulissen II: Kant ganz privat

Als legendär gelten Kants Pünktlichkeit und sein streng geregelter Tagesablauf. Er ließ sich von seinem Hausdiener, einem ausgemusterten Soldaten, um 4:45 Uhr wecken, um 22 Uhr ging er ins Bett. Außerdem stand ein Spaziergang immer zur selben Uhrzeit auf seinem immer gleichen Tagesprogramm.

Das ist allerdings nur die halbe Wahrheit: Den strengen Tagesablauf hat Kant erst mit über vierzig eingeführt, um leistungsfähiger zu sein. In seinen jungen Jahren ist eher das Gegenteil von Strenge und Disziplin der Fall: Als Student war er ein leidenschaftlicher Kartenspieler, sein Studium finanzierte er teilweise mit Billardspielen. Außerdem nahm er für sein Leben gern an Gesellschaften teil, zu denen er mit modischer Kleidung ging. Überhaupt galt er als galant. Außerdem ist überliefert, dass er »einen unerschöpflichen Vorrat von unterhaltenden und lustigen Anekdoten [besaß], die er ganz trocken, ohne je selbst dabei zu lachen, erzählte«.

Die Nonchalance, mit der er sich in Gesellschaft bewegte, ist ihm immer geblieben: Zum Mittagessen lud er meist Gäste ein, die er als vorbildlicher Hausherr blendend unterhielt – wobei er streng darauf achtete, dass keine trockenen philosophischen Themen auf den Tisch kamen!

Von Herder erfahren wir außerdem, dass Kant ihn aufgefordert habe, nicht so viel über Büchern zu brüten, während Kants Freund Johann Georg Hamann wiederum befürchtete, dass Kant selbst nicht genug arbeite, weil er sich durch »einen Strudel gesellschaftlicher Zerstreuungen« ablenken lasse.

Und Kants Pünktlichkeit, die ihm immerhin den Ruf eingebracht hat, dass die Königsberger ihre Uhren nach ihm stellen konnten? – Die ist tatsächlich eine Legende: Sie wurde ihm von seinem englischen Freund Joseph Green aufgezwungen, der einen so streng geregelten Tagesablauf hatte, dass Kant nicht nur pünktlich zu Verabredungen erscheinen musste, sondern auch pünktlich das Haus wieder zu verlassen hatte!

Kants Nachleben: Kantianismus und Kantianer

Dass Immanuel Kant einer der bedeutendsten Philosophen überhaupt ist, sieht man schon daran, dass nicht nur seine Schüler als Kantianer bezeichnet werden, sondern mit dem Kantianismus ein Allgemeinbegriff entstanden ist, der sowohl die Kantianer im strengen Sinn als auch die Philosophen, die sich in ihren Lehren eng an Kant anschließen, sowie die Kantforscher umfasst. Außerdem entsteht 1860 die philosophische Bewegung des Neukantianismus, die eine Rückkehr zu Kants Lehren fordern. Und Kants erkenntnistheoretische Vorgehensweise ging als Kritizismus in die philosophischen Wörterbücher ein.

Kants Beitrag zu Erkenntnistheorie und Ethik hat ihm weit über Europa und das Abendland hinaus Ruhm eingebracht: Anfang des 20. Jahrhunderts entstand in Tokyo der sogenannte »Philosophie-Park« mit sechs Tempeln. Einer davon, die »Halle der Vier Heiligen«, ist den vier »Weltweisen« gewidmet: Buddha, Konfuzius, Sokrates und Kant.