Heinrich von Kleist – eine Ausnahmeerscheinung der deutschen Literatur

Ein unstetes Leben in bewegten Zeiten


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Dichter der Extreme

Dieser ruhelose Grenzgänger ist eine Ausnahmeerscheinung der deutschen Literatur. In nur zehn Jahren ab 1802 entstanden seine Novellen und Theaterstücke, die rigoros Grundfragen der menschlichen Existenz ausloten und bis heute zum festen Repertoire der Theaterbühnen und schulischen Lektürekanon gehören. Seine Figuren sind radikal, maßlos, widersprüchlich, zerrissen, gewalttätig, loten Extreme aus, sind unverfügbaren Zufällen ausgesetzt oder rennen gegen die Welt an. Harmonie und Glück sind ihnen fremd. Ein Meister der Sprache, entzieht sich Kleist festen Zuordnungen zu zeitgenössischen literarischen Strömungen und Epochen. Er steht für sich wie sonst nur Kafka – der Kleist sehr verehrte und als »eigentlichen Blutsverwandten« betrachtete.

Der beschwerliche Weg zum Dichter

In den Wintermonaten 1800/01 beschäftigte Kleist sich intensiv mit den philosophischen Schriften Immanuel Kants. Ihn erschütterte die Einsicht, dass keine objektive Erkenntnis der Wahrheit möglich ist. Als der Vierundzwanzigjährige, der eine akademische Beamtenlaufbahn einschlagen wollte, mit Kant an der Wissenschaft verzweifelte, wurde er zum Dichter. Das Schreiben wurde für ihn der einzige mögliche Ausweg aus der Krise – so jedenfalls stellte es Kleist in seinen Briefen dar. In den Folgejahren entstand sein schriftstellerisches Werk, beginnend mit den dramatischen Erstlingen Die Familie Schroffenstein und Robert Guiskard (1802/03) bis Prinz Friedrich von Homburg (1809/10) und der essayistischen Erzählung Über das Marionettentheater (1810).


Kleist als Erzähler

Kleists erzählerisches Werk ist von einem komplexen und zugleich klaren Prosastil geprägt. Mit Vorliebe behandelte er exzentrische Stoffe bis hin zur extremen Leidenschaft und zur unkontrollierten Verschärfung eines Konflikts, ja bis zur völligen Eskalation. In seiner ersten Erzählung Das Erdbeben in Chili (1807) beschrieb er das Überleben der Bewohner von St. Jago nach einem verheerenden Erdbeben. Kleists berühmteste Novelle Michael Kohlhaas (1810) erzählt von einem Rosshändler, der mit der Unbedingtheit seines Rechtsgefühls zum Fanatiker, Räuber und Mörder wird. In Die Marquise von O. (1808) sucht eine verwitwete Adlige, die ohne ihr Wissen schwanger geworden ist, per Zeitungsannonce nach dem Vater ihres Kindes. Kleist thematisierte in der Novelle das patriarchalische Frauenbild und ihre Rolle in der bürgerlichen Familie. Obwohl Kleist die Gattung der Novelle auf einen Höhepunkt führte, waren diese Erzählungen für ihn nur Mittel zum Zweck des Geldverdienens. Seine eigentliche Bestimmung sah er in der Dramendichtung.

Das dramatische Werk von Kleist

Wie seine Novellen zeichneten sich seine Theaterstücke durch ungewöhnliche Thematik und psychologische Tiefe aus. Die Figuren befanden sich ebenfalls meist in einer extremen Situation. Bereits sein erstes Stück Die Familie Schroffenstein weist diese Merkmale und den charakteristischen Ton auf. In dem Lustspiel Der zerbrochne Krug (1805/06) thematisierte Kleist in der Figur des korrupten Dorfrichters Adam richterliche Autorität und ihren Missbrauch. Der rätselhafte Amphitryon (1806) behandelt die Nichterkennbarkeit der Wahrheit. In Prinz Friedrich von Homburg griff Kleist auf ein historisches Ereignis aus dem Jahre 1675 zurück. Im Mittelpunkt steht das eigenmächtige Handeln des Prinzen, der den Befehl des Kurfürsten missachtet und damit den Erfolg einer Schlacht gefährdete: ein Konflikt zwischen Pflichtbewusstsein und Individualität.

Napoleonische Kriege und patriotische Gesinnung

Das literarische Wirken von Kleist fiel in die politischen und gesellschaftlichen Umbrüche in Deutschland während der Napoleonischen Kriege. Nicht zuletzt infolge der Erfahrung von Napoleons Einmarsch in Berlin im Oktober 1806 und einer mehrmonatigen französischen Gefangenschaft 1806/07 wegen Spionageverdachts entwickelte Kleist eine anti-napoleonische und patriotische Orientierung. Neben politischen Schriften stellte er auch schriftstellerische Arbeit in den Dienst der nationalen Sache. Auch das gehört zur Vielschichtigkeit seines Werks. Mit seinem Drama Hermannsschlacht (1808) wollte er seine Zeitgenossen zum Widerstandskampf gegen die französische Besatzungsmacht aufrufen (doch zeigte es gleichzeitig die unmenschliche Seite des Krieges). Aber weder das Drama noch die politischen Gedichte und Schriften kamen zu seinen Lebzeiten an die Öffentlichkeit.


Wirkung und Einfluss auf spätere Autoren

Zu Lebzeiten war Kleist ein Außenseiter im literarischen Betrieb und fand wenig Anerkennung. Allein seine Novellen wurden 1810/11 in zwei Bänden veröffentlicht und nur die drei Theaterstücke Die Familie Schroffenstein, Der zerbrochne Krug (am Weimarer Hoftheater unter der Leitung von Goethe) und Das Käthchen von Heilbronn (1810) wurden aufgeführt. Erst 1826 gab Ludwig Tieck Heinrich von Kleists gesammelte Schriften in drei Bänden heraus. Anfang des 20. Jahrhunderts wandten sich dann junge Autoren wie Hauptmann, Wedekind, Kafka oder Hofmannsthal wieder Kleist zu und entdeckten seine Modernität. Sie halfen teils auch, den Kleist-Preis ins Leben zu rufen, der 1912–32 und wieder seit 1984 vergeben wird. Heute gehören Kleists Werke zum Kanon der Weltliteratur und seine Theaterstücke wie Der zerbrochne Krug zu den meistinszenierten Werken auf deutschen Bühnen.


Nachruhm! Was ist das für ein seltsames Ding, das man erst genießen kann, wenn man nicht mehr ist?


Brief Kleists an seine Verlobte Wilhelmine von Zenge, 15.8.1809