Friedrich Nietzsche (1844–1900) ist einer der umstrittensten und widersprüchlichsten, aber auch bedeutendsten Philosophen und gewissermaßen ein enfant terrible der Disziplin. Viele seiner eher als Aphorismen formulierten philosophischen Leitsätze wurden und werden noch immer kontrovers diskutiert, angefangen bei provokanten Äußerungen wie »Du gehst zu Frauen? Vergiss die Peitsche nicht!« bis hin zu seinem berühmten »Gott ist tot! … Und wir haben ihn getötet«. Seine Kritik an der christlichen Religion und Moralphilosophie sowie der Metaphysik sind dabei in vielerlei Hinsicht ebenso zukunftsweisend wie die oft psychologische Dimension seiner Schriften, die teilweise sogar als Vorwegnahmen von Ideen Sigmund Freuds gelesen werden.
Freier Denker
Ein großer Teil des Faszinosums liegt zweifellos darin begründet, dass er nur schwer einer Kategorie zuzuordnen ist. Er selbst begreift sich als »freier Denker«, und tatsächlich bewegt er sich fließend zwischen Philosophie, Kunst und Wissenschaft. Wegen seines mitreißenden Stils gilt er als Meister des Aphorismus, und seine Philosophie zeichnet sich durch eine revolutionäre Freiheit der Methode aus.
Rastlos Getriebener
Diese Unangepasstheit spiegelt sich in seinem Leben wider: Er erscheint als rastlos Getriebener, der unfassbar viel geschrieben hat, seit seinem 25. Lebensjahr staatenlos war, viele Jahre permanent zwischen Schweiz, Italien und Frankreich herumreiste, vom glühenden Wagner-Verehrer zu dessen erklärtem Gegner wurde und schließlich mit nur 55 Jahren in geistiger Umnachtung starb. Hinterlassen hat er ein Werk, das im 20. Jahrhundert eine enorme Ausstrahlung hatte und unter anderem Intellektuelle wie Rainer Maria Rilke, Hugo von Hoffmannsthal, Sigmund Freud, Albert Camus und Michel Foucault beeinflusste, – aber auch von den Nationalsozialisten instrumentalisiert wurde.
Friedrich Nietzsche und sein »Naumburger Frauenhaushalt«
Friedrich Nietzsche wird als ältestes von drei Kindern eines lutherischen Pfarrers und dessen Frau, einer Pfarrerstochter, geboren. Seinen Vornamen verdankt er dem preußischen König Friedrich Wilhelm IV., an dessen Geburtstag er zur Welt kam – der Vater war glühender Verehrer des Königs. Doch der Vater stirbt, als Friedrich vier Jahre alt ist, und als im Jahr darauf auch noch der Bruder stirbt, zieht die Mutter mit ihm und seiner Schwester nach Naumburg. Dort lebt Friedrich sechs Jahre lang im berühmten »Frauenhaushalt« mit Mutter, Schwester, Großmutter, zwei unverheirateten Tanten und einem Dienstmädchen. Ob das manche seiner späteren Aussagen über Frauen beeinflusst haben könnte, darüber haben Nietzsche-Interpreten ausführlich diskutiert…
»Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum« – Ausnahmetalent und Schöngeist
Bereits auf dem Gymnasium fällt Friedrich Nietzsche durch besondere musische und sprachliche Begabung auf, ein Talent, das nicht nur all seinen Schriften anzumerken ist, sondern auch seiner Liebe zur Musik: Zu seinen frühen Werken gehört Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872), schon in der Gymnasialzeit wird er zum begeisterten Wagner-Anhänger, und zeitlebens komponiert er – gewissermaßen als »Nebenbeschäftigung«. Die Musik war für ihn immer wichtig: Seine späteren Vermieter in Turin berichten, dass er, ansonsten ein tadelloser Mieter, leider manchmal nachts zu laut Klavier spielte. Die Vermieterin will ihn sogar dabei beobachtet haben, wie er, geistig schon etwas angeschlagen, nackt in seinem Zimmer gesungen und getanzt habe.
Zwar schreibt sich der 20-jährige Nietzsche für Klassische Philologie und Theologie an der Universität Bonn ein, beschließt aber bereits nach dem ersten Semester, das Theologiestudium abzubrechen – zum Leidwesen seiner Mutter. Überhaupt war sein Studentenleben von Unruhe geprägt: Zunächst tritt er in eine Burschenschaft ein, findet das Verbindungsleben aber öde und verlässt diese nach nur einem Jahr. Den Wechsel seines Literaturprofessors nach Leipzig nimmt er zum Anlass, diesem zu folgen. Er kommt dort unter anderem mit der Philosophie Arthur Schopenhauers in Berührung, die ihn stark beeinflusste, außerdem lernt er 1868 Richard Wagner persönlich kennen.
Professor und Staatenloser: Nietzsche in Basel
Bereits mit 25 Jahren wird Nietzsche, den man als Ausnahmetalent erkannt hatte, noch vor seiner Promotion als Professor für Klassische Philologie an die Universität Basel berufen, wo er zehn Jahre lang lehrte. Den Umzug in die Schweiz nutzt Nietzsche, um die preußische Staatsangehörigkeit abzulegen, die Schweizer aber nicht anzunehmen, und verbringt den Rest seines Lebens als Staatenloser – ein Zustand, der seinen unabhängigen Geist, aber auch seine Skepsis allem Nationalen gegenüber deutlich macht. Entgegen der Ideologie der Nationalsozialisten, die seine Philosophie der Kraft und des Übermenschen auf die Überlegenheit der »arischen Rasse« münzten, schreibt Nietzsche von den Deutschen verächtlich: »Ein Deutscher ist großer Dinge fähig, aber es ist unwahrscheinlich, dass er sie tut: Denn er gehorcht, wo er kann, wie dies einem an sich trägen Geiste wohl tut«. Er träumt vielmehr von einem Weltbürgertum.
Von der Götterverehrung zur Götzen-Dämmerung
In seiner Baseler Zeit entwickelt sich Nietzsches Philosophie weiter, und er verabschiedet sich nacheinander von seinen beiden Vorbildern Wagner und Schopenhauer.
Bei Wagner kommt eins zum anderen: Nietzsche ist bei der lang ersehnten Einweihung des Bayreuther Festspielhauses und damit den ersten Festspielen 1876 anwesend – und ist enttäuscht. Und zwar sowohl von den Darbietungen als auch vom Publikum, das er als »niveaulos« empfindet. Das ist der erste Schritt auf dem Weg zu einer regelrechten Ablehnung Wagners, von dessen antisemitischen Äußerungen und Schriften er sich nun entschieden distanziert, wobei er den Juden ganz im Gegenteil sogar das Zeug zu einer Führungsrolle in Europa attestiert.
Anschließend entfernt er sich auch von Schopenhauer – hier wohl angeregt durch den Austausch mit Paul Rée, Philosoph und Arzt, mit dem er sich in dieser Zeit befreundete. Seine Distanzierung von beiden findet in Menschliches, Allzumenschliches (1878) seinen schriftlichen Niederschlag.
Wagners Kunst ist krank. Die Probleme, die er auf die Bühne bringt – lauter Hysteriker-Probleme –, das Konvulsivische seines Affekts, seine überreizte Sensibilität, sein Geschmack, der nach immer schärferen Würzen verlangte, seine Instabilität, die er zu Prinzipien verkleidete, nicht am wenigsten die Wahl seiner Helden und Heldinnen […]: Alles zusammen stellt ein Krankheitsbild dar, das keinen Zweifel lässt. Wagner est une névrose.
Nietzsche über Wagner in Der Fall Wagner
»Gott ist tot« – der Abschied von christlicher Religion und Moral
Die provokative These vom Tod Gottes wird verständlich durch den nicht weniger provokativen Zusatz: »Wir haben ihn getötet.« Doch was will Nietzsche damit sagen? Zentral ist die Feststellung, dass die Aufklärung und mit ihr die modernen Naturwissenschaften sowie die Geschichtswissenschaft das christliche Weltbild obsolet gemacht haben. Die Erklärungsmuster des Christentums sind überflüssig geworden, da sie durch die Erkenntnisse der Wissenschaft ersetzt wurden. Die Existenz einer metaphysischen Welt sei zwar nicht widerlegbar, aber auch nicht beweisbar, und wenn sie existiere, dann sei sie für uns irrelevant:
»Denn man könnte von der metaphysischen Welt gar Nichts aussagen, als ein Anderssein, ein uns unzugängliches, unbegreifliches Anderssein; es wäre ein Ding mit negativen Eigenschaften. Wäre die Existenz einer solchen Welt noch so gut bewiesen, so stünde doch fest, dass die gleichgültigste aller Erkenntnisse eben ihre Erkenntnis wäre.«
Zugleich kritisiert Nietzsche die christliche Moral, seiner Meinung nach eine Sklavenmoral, die den Elenden, Leidenden, Entbehrenden als den Guten sieht, während die Glücklichen, Herrschenden als die bösen Anderen dargestellt werden. Das Christentum habe so alle höhere Kultur und Wissenschaft und damit auch den höheren Menschen verhindert. Deshalb fordert er eine Umwertung aller Werte.
Die Zeit als freier Philosoph
Nietzsches Gesundheitszustand, der schon früher durch Migräneanfälle gekennzeichnet ist, verschlechtert sich ab 1875, weshalb er 1879 seine Lehrtätigkeit in Basel aufgibt und von nun an als »freier Philosoph« lebt und schreibt. Dabei ist er viel auf Reisen, was zum einen der Suche nach einem geeigneten Klima für seine schwache Gesundheit geschuldet ist, zum anderen aber vielleicht auch seiner inneren Unruhe und seinem gleichzeitigen Schreibdrang. Er ist hin- und hergerissen zwischen der Freude an Gesellschaft und geistigem Austausch und dem Wunsch nach Einsamkeit, um sich seinem Werk widmen zu können – ein Werk, das er für unverzichtbar für die Menschheit hält und das er unbedingt rechtzeitig vollenden will. Ob dieses Gehetztsein die Vorahnung seines Wahnsinns ist oder Ausdruck von Größenwahn, bleibt Thema von Spekulationen.
Der Wille zur Macht
Als Konsequenz seiner Umwertung aller Werte und im Zuge der Ersetzung der von ihm kritisierten Sklavenmoral durch eine Herrenmoral entwirft Nietzsche das Konzept des Willens zur Macht. Anders als Schopenhauers blinder Wille zum Leben ist der Wille zur Macht nicht bloßes Streben nach Erhalt, sondern nach Selbstüberwindung, Wachstum und Gestaltung. Alles Leben strebt nach Expansion und Beherrschung seiner Umgebung. Dabei handelt es sich nicht um eine moralische Forderung, sondern eine Beschreibung dessen, was Nietzsche als grundlegendes Prinzip des Lebens ansieht, selbst in den kleinsten Details. Dabei spielt auch das ständige Streben nach Höherem und nach Selbstoptimierung eine Rolle, die schließlich die Idee des Übermenschen vorbereitet.
Ménage-à-trois: Nietzsche, Rée und Lou Andreas-Salomé in Rom
Eine bedeutende Erfahrung für Nietzsche ist die Bekanntschaft mit Lou Andreas-Salomé, die er über seinen Freund Paul Rée in Rom in einem Intellektuellenzirkel kennenlernt – und in die er sich verliebt. Doch diese Liebe ist mehr als kompliziert: Salomé hat zuvor schon zahlreiche Heiratsanträge abgelehnt, zuletzt den von Paul Rée. Mit Rée und Nietzsche stellt sie sich eine enge Freundschaft und ein Leben zu dritt vor – das für eine gewisse Zeit, trotz aller gesellschaftlichen Widerstände, auch zu funktionieren scheint, dann aber doch an Nietzsches Eifersucht scheitert. Nach dem zweiten von Salomé abgelehnten Antrag entfernt er sich von den beiden und schreibt so wüste Briefe, dass ein Wiedersehen unmöglich wird.
Doch Nietzsche leidet unter der Trennung: »An jedem Morgen verzweifle ich, wie ich den Tag überdaure … Heute Abend werde ich so viel Opium nehmen, dass ich die Vernunft verliere.«
In dieser Zeit entsteht Also sprach Zarathustra, und Spekulationen zum Anteil, den die verunglückte Dreiecksbeziehung an Bemerkungen wie »Du gehst zu den Frauen? Vergiss die Peitsche nicht« hatte, und ob diese nicht eher zur Zügelung der eigenen Leidenschaften dienen sollte, werden nicht zuletzt durch eine von Nietzsche arrangierte Fotografie der drei befeuert, die Lou Salomé zeigt, wie sie mit einer Peitsche ausgestattet Rée und Nietzsche vor einen Karren spannt.
Ewige Wiederkunft und Übermensch
Eines der tiefgreifendsten, zugleich aber auch in seiner Bedeutung umstrittenen Konzepte in Nietzsches Werk ist das der »ewigen Wiederkunft«. Letztlich greift es den Gedanken eines zyklischen Geschichtsbilds auf, indem es davon ausgeht, dass alles Geschehen sich seit jeher und für immer unendlich oft wiederholt. Der oft zitierte Satz »Doch alle Lust will Ewigkeit – will tiefe, tiefe Ewigkeit« muss so verstanden werden, dass das Ziel ist, sein Leben so zu leben, dass die ständige Wiederholung nicht erschreckt, sondern glücklich macht.
Diese Ideen hängen eng zusammen mit dem Konzept des Übermenschen. Der Übermensch ist ein in diesem Kreislauf immer wieder aus der Masse auftauchendes besonderes Individuum. Er ist gekennzeichnet von Härte gegen sich und andere, weil er nach höherem Glück strebt und die alten Moralvorstellungen und die Mittelmäßigkeit hinter sich lässt, um neue Werte zu schaffen. Er ist stark und lebensbejahend und lebt vollkommen selbstbestimmt. Der Wille zur Macht in ihm ist vor allem der Wille zur Selbstüberwindung und dadurch Selbstbereicherung.
»Fast alles, was wir ›höhere Kultur‹ nennen, beruht auf Vergeistigung und Vertiefung der Grausamkeit.«
Einige Analphabeten der Nazis, die wohl deshalb unter die Hitlerschen Schriftgelehrten aufgenommen worden sind, weil sie einmal einem politischen Gegner mit dem Telefonbuch auf den Kopf gehauen haben, nehmen Nietzsche heute als den ihren in Anspruch. Wer kann ihn nicht in Anspruch nehmen! Sage mir, was du brauchst, und ich will dir dafür ein Nietzsche-Zitat besorgen.
Kurt Tucholsky in der Weltbühne 1932 über Nietzsche
Turin: Wahnbriefe und geistige Umnachtung
Nietzsches Zustand verschlechterte sich schon vor seinem endgültigen Zusammenbruch: Im Januar 1889 schreibt er aus seiner Turiner Wohnung die sogenannten »Wahnbriefe«, die teilweise zusammenhangslose und schwer verständliche Botschaften enthalten und von Größenwahn gezeichnet scheinen. Das wird nicht nur durch die Adressaten deutlich – unter ihnen sind neben alten Bekannten auch Cosima Wagner und König Umberto I. von Italien –, sondern noch mehr daran, dass er wahlweise mit »Dionysos« oder »Der Gekreuzigte« unterschreibt. Als endgültiger Zusammenbruch wird die Anekdote überliefert, er sei einem Pferd, dass von seinem Kutscher brutal geschlagen wurde, um den Hals gefallen, um es zu beschützen, habe ihm etwas zugeflüstert und sei in Tränen ausgebrochen. Sein Vermieter, der die Szene beobachtet haben will, soll Nietzsche beruhigt und schließlich in dessen Wohnung gebracht haben, wo ihn kurz darauf ein extra angereister Freund in eine psychiatrische Klinik brachte.
Nietzsches letzte Worte sollen die zum misshandelten Pferd gewesen sein – danach hat er nie wieder gesprochen. Seine letzten zehn Lebensjahre verbringt er in der Obhut erst der Mutter, nach deren Tod dann der Schwester Elisabeth. Diese überwacht sowohl die Besucher, die vorgelassen wurden, als auch die Publikation seiner Werke streng. Als Nietzsche 1900 stirbt, wird sie zur Nachlassverwalterin, wobei sie sich nicht nur um die Publikation (auch von Briefen und Fragmenten) verdient macht, sondern selbst Hand anlegt. Mit ihren Eingriffen in die Texte trägt sie, die bis zu dessen Tod mit einem antisemitischen Agitator verheiratet war, wesentlich dazu bei, dass Nietzsches Schriften später von den Nationalsozialisten zu ihren Zwecken genutzt und Nietzsche von ihnen als Denker vereinnahmt wird.
Nietzsche zwischen Philosophie und Aphorismus
»Es ist wahr: Wir lieben das Leben, nicht, weil wir ans Leben, sondern ans Lieben gewöhnt sind. Es ist immer etwas Wahnsinn in der Liebe. Es ist aber auch immer etwas Vernunft im Wahnsinn.«
aus Also sprach Zarathustra
»Der Irrsinn ist bei Einzelnen etwas seltenes – aber bei Gruppen, Parteien, Völkern, Zeiten die Regel.« aus Jenseits von Gut und Böse
»Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.«
aus Jenseits von Gut und Böse
»Was mich nicht umbringt, macht mich stärker.«
aus Götzen-Dämmerung
»Wie? ist der Mensch nur ein Fehlgriff Gottes? Oder Gott nur ein Fehlgriff des Menschen?«
aus Götzen-Dämmerung
»Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit.«
aus Ecce homo