»Ein Zimmer für sich allein« – diese zugespitzte Forderung von Virginia Woolf (1882–1941) in ihrem gleichnamigen Essay machte sie zu einer Ikone der Emanzipationsbewegung. Sie setzte sich darin ironisch und pointiert mit den Bedingungen auseinander, die sie für das Schreiben als essenziell ansah, die den Frauen aber nicht zugestanden wurden – darunter ein eigener Raum. Im Gegensatz zu vielen Schriftstellerinnen konnte sich Virginia Woolf zum Arbeiten in ihr Zimmer zurückziehen. Dort verfasste sie Werke, dank denen sie zu den bedeutendsten Vertreter:innen der literarischen Moderne zählt.
Virginia Woolf – zwischen Privilegien und Depressionen
Virginia Woolf, geborene Stephen, stammte aus einer gebildeten und vermögenden Londoner Familie. Eine bestens gefüllte Bibliothek und das Vorbild des Vaters mögen die Initialzündung für eigenes Schreiben gewesen sein. Zudem kam sie schon im Elternhaus in engen Kontakt mit Künstlern und Wissenschaftlern. Den intellektuellen Austausch suchte sie auch in ihren Erwachsenenjahren. So wurden sie und ihre Schwester, die Malerin Vanessa Bell, das »Herz« der renommierten Bloomsbury Group. Die äußeren Umstände kamen ihr entgegen, doch eine schwere psychische Erkrankung verdunkelte ihr Leben.
Vor und hinter dem Verlagsschreibtisch
In ihren Romanen, Essays, Tagebüchern und Briefen zeigt sich Virginia Woolf als kritische, scharfsinnige Beobachterin gesellschaftlicher und politischer Zustände. 1904 veröffentlichte sie erste Essays, 1915 mit The Voyage out (dt. Die Fahrt hinaus) ihren ersten Roman. Mrs Dalloway (1925, dt. Mrs. Dalloway) und To the Lighthouse (1927, dt. Die Fahrt zum Leuchtturm) wurden 2015 auf Platz 2 und 3 der 100 bedeutendsten britischen Romane gewählt. Die Autorin brach darin mit überkommenen literarischen Traditionen und perfektionierte die Technik des sogenannten Bewusstseinsstroms. Neben ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin war Virginia Woolf im Verlag The Hogarth Press tätig, der von ihr und ihrem Mann gegründet wurde.
Eine Kindheit in der Weltmetropole London
Virginia Woolf wurde als Adeline Virginia Stephen in London geboren. Die Hauptstadt des Britischen Empire durfte sich rühmen, die größte Stadt der Welt zu sein und Anziehungspunkt für Menschen aller Schichten und Nationen. Ihr Vater Leslie Stephan war ein bekannter Historiker und Schriftsteller und ihre Mutter Julia, geborene Jackson, Philanthropin, Modell bedeutender Präraffaeliten und Unterstützerin der frühen Frauenbewegung. In ihrem Salon sammelten sie einen bunten Kreis von Intellektuellen um sich – eine Tradition, die Virginia Stephen und einige ihrer Geschwister fortsetzten.
Die Bloomsburys
Mit ihren Brüdern Thoby und Adrian sowie ihrer Schwester Vanessa initiierte Virginia Stephen die Bloomsbury Group, die nach dem Stadtteil, in dem die Geschwister wohnten, benannt wurde. Ihre Mitglieder – Publizisten, Philosophen und Künstler – trafen sich von 1905 bis zum Zweiten Weltkrieg regelmäßig zu Gesprächen und Festen, verreisten zusammen und riefen gemeinsame Projekte ins Leben. Neben den Stephen-Geschwistern gehörten unter anderem Dora Carrington, E. M. Forster, Roger Fry, David Garnett, John Maynard Keynes, Desmond MacCarthy, Lady Ottoline Morell, Vita Sackville-West, Lytton Strachey und Leonard Woolf dazu.
Mit ihrer offenen Haltung zu Themen wie Sexualität, Gleichstellung und Freiheit des Individuums sowie der damit verbundenen Kritik an der konservativen viktorianischen Gesellschaft gewannen die »Bloomsburies« großen Einfluss auf die Moderne. Die wohl wichtigste Institution, die aus diesem Kreis hervorging, war der Verlag The Hogarth Press, den Virginia und Leonard Woolf gründeten.
Handgemachter Erfolg: The Hogarth Press
Virginia Stephen heiratete 1912 Leonard Sidney Woolf, einen Studienfreund ihres Bruders Thoby, der bis kurz vor der Heirat als Jurist im Kolonialdienst tätig war. Das Schriftsteller- und bald auch Verlegerehepaar lebte zunächst in London und ab Ausbruch des Zweiten Weltkriegs im Cottage Monk’s House in Rodwell bei Brighton.
1917 riefen sie den Verlag The Hogarth Press ins Leben. Sie begannen mit einem Werk, das aus je einer Erzählung von Virginia Woolf und Leonard Woolf bestand, und druckten über Jahre hinweg Buchseite für Buchseite von Hand. Virginia Woolf akquirierte zudem Autorinnen und Autoren und lektorierte die Manuskripte. Hogarth Press galt als Hausverlag der Gründerin und der Bloomsbury-Group, konnte aber weitere berühmte Autorinnen und Autoren gewinnen, etwa T. S. Elliot und Sigmund Freud. Sie entwickelte sich zu einem der bedeutendsten englischen Verlage für Belletristik und existiert bis heute.
Virginia Woolfs experimentelle Romane
Mit Jacob’s Room veröffentlichte Virginia Woolf 1922 im eigenen Verlag ihren ersten experimentellen Roman. Sie brach darin die lineare Erzählweise auf und wechselte in schneller Folge Zeitebenen und Perspektiven. Vor allem perfektionierte sie die Technik des sogenannten Bewusstseinsstroms, durch den die subjektive Gedankenwelt der Protagonisten im Zentrum steht.
In ihrem nächsten Roman, Mrs Dalloway, erschienen 1925, verfeinerte Virginia Woolf diese Stilmittel und kreierte ein ebenso innovatives wie tiefgründiges psychologisches Meisterwerk von großer sprachlicher Präzision. Dabei entlarvte sie die konservativen und teils menschenverachtenden Strukturen ihrer Zeit. Mrs Dalloway gilt als der zentrale Roman der Autorin und leitete ihren internationalen Durchbruch ein.
Ein Zimmer für die Kreativität
Nicht nur die Romane Virginia Woolfs, sondern auch die Essays zeichnen sich durch sprachliche Eleganz, kritische Beobachtungen und psychologische Tiefe aus. Ihr erfolgreichster Essay, A Room of One’s Own (1929), wird als zentrales Werk der feministischen Literatur gesehen. In Deutschland wurde Virginia Woolf erst durch diesen Text von einem breiten Publikum entdeckt.
Die Autorin kritisiert darin die Diskrepanz zwischen den Lebens- und Arbeitsbedingungen für die beiden Geschlechter und fordert Gleichberechtigung für die Frauen. Ihnen müsse Zugang zu Bildung, Privatsphäre etwa in Form eines eigenen Zimmers und materielle Unabhängigkeit vom Mann zugstanden werden. Nur so könnten sie ihr schöpferisches Potenzial voll entfalten und Literatur produzieren, die der des männlichen Geschlechts in Nichts nachsteht.
Geistige Freiheit hängt von materiellen Dingen ab. Dichtung hängt von geistiger Freiheit ab. Und Frauen sind immer arm gewesen, nicht erst seit zweihundert Jahren, sondern von Anbeginn der Zeiten. Frauen besaßen noch weniger geistige Freiheit als die Söhne der Athener Sklaven. […] Das ist der Grund, warum ich das Geld und das Zimmer für sich allein so betont habe.
Virginia Woolf, Ein Zimmer für sich allein
Virginia Woolfs dunkle Seite
Seit Ihrer Jugend lastete auf Virginia Woolf ein schweres Schicksal. 1895 starb ihre Mutter, und die 13-jährige Virginia erlitt einen ersten psychischen Zusammenbruch. Sie entwickelte eine bipolare Störung, zu der möglicherweise auch eine genetische Disposition, der Tod zweier Geschwister und des Vaters sowie eventueller sexueller Missbrauch durch zwei ihrer Halbbrüder beitrugen. Eine der heftigsten Attacken erlebte sie kurz nach ihrer Hochzeit, sie führte 1913 zu einem Selbsttötungsversuch mit Tabletten. Leonard Woolf stand seiner Frau zur Seite und gab ihr über die Jahre hinweg Halt. Als die Depression und Panikattacken jedoch unerträglich wurden, ertränkte sich Virginia Woolf am 28. März 1941 nahe ihres Cottages Monk’s House im Fluss Ouse.