Marc Aurel – ein Philosoph als Kaiser

Marc Aurel war ab 161 n. Chr. Kaiser des Römischen Reiches – und ist der Nachwelt als letzter großer Stoiker in Erinnerung geblieben. Im Feldlager an der Donau widmete er sich mitten im Krieg immer wieder dem Mentaltraining, einer therapeutischen Technik und geistigen Übung, wie sie in der stoischen Philosophie üblich war: Er beschäftigte sich schriftlich (auf Griechisch) mit dem eigenen Selbst und verschiedenen persönlichen und philosophischen Themen. Auf diese Weise verinnerlichte und festigte er stoische Einsichten, die sein Denken und Handeln bestimmen sollten.
Diese Selbstbetrachtungen sind erhalten geblieben und inspirieren uns noch heute, nicht zuletzt wegen ihrer weltbürgerlichen Perspektive und ihrer tiefen Humanität.


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Themen, die inspirieren

Sie sind über 1800 Jahre alt, aber vieles in Marc Aurels Texten wirkt beinahe zeitlos. Jeder und jede tut gut daran, sich manche Haltung anzueignen. Gelassenheit zum Beispiel. Gerechtigkeit. Sich bewusst machen, dass das Leben endlich ist. Dass Macht einen verderben kann. Marc Aurels Texte haben schon viele angeregt, darunter bedeutende Persönlichkeiten in politischer Verantwortung wie Friedrich den Großen, Helmut Schmidt und Bill Clinton.


»Die Zukunft soll dich nicht beunruhigen. Denn du wirst ihr, wenn es nötig sein wird, mit derselben Vernunft begegnen, die dir auch jetzt schon für die Gegenwart zu Gebote steht.«

Marc Aurel


Ein unerwarteter Werdegang

Als Marcus Aurelius am 26. April 121 n. Chr. geboren wurde, deutete nichts darauf hin, dass er einmal Kaiser des Römischen Reichs werden sollte. Bereits als Kind hatte Marcus Philosophieunterricht erhalten, schon seit seinem zwölften Lebensjahr war seine Hinwendung zur Philosophie offensichtlich. Sein Vater starb früh, seine Mutter war eine Schwester von Marc Aurels Vorgänger als Kaiser: Antoninus Pius. Dessen Vorgänger wiederum, Kaiser Hadrian, ein kinderloser Verwandter von Marc Aurels Mutter, förderte den Jungen schon früh.
Und dann rückte Marc Aurel unerwartet ganz nahe an den Thron: Als der ursprünglich als Nachfolger Benannte jung verstarb und Hadrian den Antoninus Pius adoptierte, damit dieser nach seinem Tod Kaiser werden konnte, veranlasste er, dass Antoninus Pius wiederum den jungen Marc Aurel adoptierte. Antoninus Pius starb im März 161, und Marc Aurel folgte ihm als Kaiser nach. Er war damals 40 Jahre alt.
Bereits 16 Jahre zuvor war er im Alter von 24 mit einer Tochter des Antoninus Pius verheiratet worden: Faustina. Er schätzte sie sehr, und die beiden bekamen miteinander 13 Kinder.

Ein Leben an der Front

Trotz schwacher Konstitution verbrachte der der Philosophie ergebene Kaiser den größten Teil seiner Regierungszeit im Feldlager. Nördlich der Alpen hatte sich ein Krisenherd entzündet, germanische Stämme überschritten immer wieder die Donaugrenze – und standen schließlich sogar in Norditalien. Zeitgleich grassierte dort eine Seuche, von den Soldaten eingeschleppt, die vom Partherfeldzug aus dem Osten zurückkehrten.
Zeitweise hatte der Kaiser sein Hauptquartier in Carnuntum an der Donau (im heutigen Niederösterreich), zeitweise in Sirmium (im heutigen Serbien). Die Selbstbetrachtungen entstanden in diesen Feldlagern, wohl zwischen 172 und 178 n. Chr. Das, was sich dort abspielte, spiegelt sich darin in eindringlichen Bildern, militärischen Metaphern und im pessimistischen Grundton. Die Stimmung wirkt bisweilen resignativ oder zumindest melancholisch, aber zwischendurch ruft sich der Kaiser auch immer wieder zu Heiterkeit und Gemütsruhe auf und führt sich die Schönheit und die Wohlgeordnetheit des Universums vor Augen.
Gegen Ende des Winters 179/180 n. Chr. erkrankte Marc Aurel schwer. Er empfahl seinen Sohn Commodus noch den Generälen und dem Heer, dann starb er am 17. März 180, wahrscheinlich in Vindobona (in der Nähe von Wien).

Ein antikes Mentaltraining

Die therapeutische Technik, sich schriftlich dem eigenen Selbst zuzuwenden, ist heute aktueller denn je. Die Psychotherapie praktiziert ganz Ähnliches, ob in Mantras oder im Dankbarkeitstagebuch. Hier hat nämlich ein Kaiser nicht an und für ein Publikum geschrieben, sondern nur an sich selbst gerichtet. Es ist eine Art therapeutisches Selbstgespräch, eine geistige Übung. Dies erklärt zugleich, weshalb sich in den Texten manches wiederholt und einzelne Texte unstrukturiert wirken: Hier hat sich jemand in fortgeschrittenem Alter immer wieder hingesetzt und seine Gedanken zu Papyrus gebracht – und wurde dabei womöglich auch immer mal unterbrochen.
Solch ein mentales Training jedenfalls war schon damals nicht unüblich, es war fester Bestandteil der stoischen Philosophie. Für Stoiker war die Philosophie nicht bloß Theorie, sondern auch eine Praxis zum Zweck der Selbstveränderung, mit dem Ziel, die richtigen Denk- und Handlungsweisen zu etablieren. Dafür ist es aber nicht ausreichend, philosophische Einsichten zu rezipieren, sie müssen vielmehr durch beständige Übung im Bewusstsein gehalten werden. Und genau das macht Marc Aurel: Indem er sich schreibend mit verschiedenen persönlichen und philosophischen Themen beschäftigt, festigt er stoische Einsichten, die sein Denken, Empfinden und Handeln bestimmen sollten. Die wichtigsten sind, 

  • dass man nicht die Dinge, die einen beunruhigen, wohl aber seine Einstellungen zu diesen Dingen ändern kann,
  • dass es nichts gibt, das nicht einem ständigen Wandel unterworfen ist,
  • und dass alle Menschen an derselben göttlichen Natur Anteil haben und deshalb dementsprechend gleich zu behandeln sind. 

Heute können wir die Texte als Anregungen zur individuellen Lebensbewältigung und zumindest als Denkanstöße annehmen.

Der echte Marc Aurel – ein Vorbild?

Aber ein Manko gibt es: Tatsächlich, im echten Leben sozusagen, war Marc Aurel vielleicht nicht so gelassen, wie man es aus seinen Texten vermuten würde. Manches, was er in den rund 20 Jahren seiner Herrschaft getan hat, macht ihn nicht gerade zu einem Vorbild. Schon Helmut Schmidt fragte sich da: »Wie gehen wir damit um, wenn wir von einem Menschen, den wir als Vorbild empfinden, in anderen Zusammenhängen Negatives erfahren?« – eine Frage, die beim Lesen der Texte im Hintergrund mitschwingen mag.