Schon zu seinen Lebzeiten bestand zwischen Thomas Mann und dem Reclam-Verlag eine Verbundenheit. Der Autor hoffte, dass nach seinem Tod seine Werke in die Universal-Bibliothek aufgenommen werden und hielt 1928 eine Festrede zum 100-jährigen Bestehen des Verlags. Eindrücklich beschrieb er dort, wo er das letzte Mal einem Firmenjubiläum beiwohnte: im Unternehmen seines Vaters. Als Jugendlicher war ihm bereits während dieser Feier klar, dass er das kaufmännische Erbe seiner Familie nicht antreten wollte. »Was ich statt dessen würde tun wollen und können, war mir undeutlich, und daher meine Beklommenheit.«
Heute gilt Thomas Mann (1875–1955) als einer der bedeutendsten Autoren des 20. Jahrhunderts, seine Werke werden der literarischen Strömung der Dekadenz (von frz. Décadence ›Niedergang‹) zugeschrieben. Damit einher geht auch der Einfluss, den die nihilistische Philosophie Friedrich Nietzsches auf Mann hatte. Und auch die Beschäftigung mit anderen Literaten und Denkern gehört zu Thomas Mann; genannt seien hier u. a. Johann Wolfgang Goethe, Richard Wagner, Theodor Storm und Arthur Schopenhauer.
Der Schlüssel zum Erfolg
Mit seinem ersten Roman Buddenbrooks (1901) gelang Thomas Mann der schriftstellerische Durchbruch. Doch während sein Debüt in ganz Deutschland gelobt wurde, fasste man es in der Heimatstadt des Autors als pamphlethafte Beleidigung auf. Die Figuren im Roman ließen sich anhand der detaillierten Beschreibungen auf in Lübeck lebende Personen aus Manns Umfeld zurückführen. Bald kursierten in der Stadt sogar Listen zur ›Entschlüsselung‹ des Romans. Dort wurde aufgeführt, welche Figur welchen Einwohner der Hansestadt zum Vorbild hatte. Thomas’ Onkel Friedrich Mann fühlte sich derart öffentlich entblößt und angegriffen, dass er mit einer Zeitungsannonce konterte:
»Wenn der Verfasser der ›Buddenbrooks‹ in karikierender Weise seine allernächsten Verwandten in den Schmutz zieht und deren Lebensschicksale eklatant preisgibt, so wird jeder rechtdenkende Mensch finden, dass dieses verwerflich ist. Ein trauriger Vogel, der sein eignes Nest beschmutzt!«
Friedrich Mann im Lübecker Generalanzeiger
Doch das konnte der schriftstellerischen Karriere von Thomas Mann nichts anhaben, im Gegenteil: 1929 erhielt er für Buddenbrooks den Literaturnobelpreis. Das Prinzip, Figuren, Orte und Begebenheiten aus seinem eigenen Leben literarisch zu verarbeiten, findet sich in weiteren bekannten Werken wieder: Die Reise des Autors von München nach Dänemark (1899) wird zum zentralen Ereignis in der Erzählung Tonio Kröger (1903). Die Kuren seiner Frau Katia in einem Sanatorium in Davos werden als Schauplatz in Der Zauberberg (1924) aufgegriffen.
Thomas Mann als Patriarch
Thomas Mann wuchs in einer gutsituierten Familie mit vier Geschwistern auf: Sein Vater war Kaufmann und Senator in Lübeck. Als dieser 1891 frühzeitig verstarb, wurde das Familienunternehmen verkauft, anstatt dass die beiden ältesten Söhne es weiterführten. Thomas und sein älterer Bruder Heinrich hatten andere Pläne: Sie wollten Schriftsteller werden. 1895 reisten sie gemeinsam nach Italien, wo Thomas zwei Jahre später mit der Arbeit an Buddenbrooks begann.
Nachdem Thomas Mann sich erfolgreich als Schriftsteller etabliert hatte, entschied er sich, ein bürgerliches Leben zu führen und eine Familie zu gründen. 1905 heiratete er daher Katia Pringsheim, die Tochter des Münchener Mathematikprofessors Alfred Pringsheim. Das Paar bekam sechs Kinder und zog 1914 in eine stattliche Villa in München. Thomas Mann kann in diesem Sinne als bürgerlicher Patriarch betrachtet werden, seine schriftstellerische Arbeit bestimmte das Familienleben.
Spannungsverhältnisse in Thomas Manns Leben
Doch dieses Bild des Autors wird ambivalenter, wenn seine nicht ausgelebte homosexuelle Veranlagung in Betracht gezogen wird. Ein Teilbereich der Thomas-Mann-Forschung beschäftigt sich damit, inwiefern Manns Homoerotik für seine literarische Produktivität sorgte und als Leitmotiv seiner Literatur aufgefasst werden kann. Die Erzählung Der Tod in Venedig (1912) behandelt das Thema sogar offensichtlich: Der erfolgreiche Schriftsteller Gustav von Aschenbach begegnet auf seiner Reise in Venedig dem schönen Jüngling Tadzio. Die erotische Anziehung und der damit einhergehende Rausch überkommt den Protagonisten so stark, dass er die Warnzeichen der um sich greifenden Cholera-Epidemie nicht wahrnimmt und schließlich stirbt.
Ein weiteres Spannungsfeld eröffnet sich, wenn man die politische Haltung Thomas Manns in den Blick nimmt. Die ersten öffentlichen politischen Äußerungen tat der Autor im Zuge des Ersten Weltkriegs, den er begrüßte. Seine nationalkonservative und kaisertreue Haltung gipfelte in dem Essay Betrachtungen eines Unpolitischen (1918). Diese politische Ansicht führte zu einem Zerwürfnis mit seinem Bruder Heinrich Mann, dessen Überzeugungen pazifistisch und liberal waren.
Doch im Laufe der 1920er Jahre vollzogen die Ansichten des Autors eine Kehrtwende: Thomas Mann lehnte die NSDAP ab und sprach sich gegen den erstarkenden Nationalismus aus. Als seine Werke verboten wurden und der Druck zunehmend stieg, floh Mann 1933 mit seiner Familie in die Schweiz und einige Zeit später in die USA. Aufgrund seiner öffentlichen Absage an das nationalsozialistische Deutschland wurde ihm 1936 seine deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt. Aus dem Exil in Kalifornien nahm Mann schließlich die Rolle eines demokratischen Aktivisten ein: In seinen berühmten antifaschistischen Radioansprachen in der BBC (1940–1945) richtete er sich direkt an die Deutschen Hörer. 1952 kehrte er in die Schweiz zurück, wo er 1955 in Zürich starb.