Eingebettet zwischen die Lemmata »Orientieren« und »Orkan« verweist der große Adelung, das Grammatisch-kritische Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, das erste, legendäre Wörterbuch der deutschen Sprache, auf das »Original«. Ein »Original« sei »das erste feyerliche ursprüngliche Werk; im Gegensatze der Copie«, es sei gewissermaßen »die Urschrift«, womöglich noch verfertigt von einem echten »Original«, einem »außerordentliche[n] Genie, eine[r] Person, welche in ihrer Art Selbsterfinder« oder gar »ein seltsamer Kopf, ein Sonderling« sei.
Acht Jahre, von 1793 bis 1801, dauerte es, bis bei Breitkopf in Leipzig die »Ausgabe letzter Hand« des Nachschlagewerks gedruckt war – bei Breitkopf in Leipzig, wo gut ein dreiviertel Jahr nach Adelungs Tod 1807 Anton Philipp Reclam geboren wurde. Auch er war sicherlich ein »Original, das für seine demokratischen Überzeugungen sogar vor Gericht gestellt und verurteilt wurde.
Auch heute scheint es nicht minder reizvoll, sich den Originalen von Originalen, oder, in den Worten der Goethezeit, den »Urschriften« der »Genies« und »Sonderlinge« möglichst unverstellt zu nähern. Längst hat das Englische dem Französischen den Rang einer lingua franca abgelaufen, und während manchen Lesenden manch deutsches Original (oder auch Übersetzungen fremdsprachiger Texte) der früheren Jahrhunderte doch ein wenig in die Jahre gekommen scheint, so kommt etwa das englischsprachige Original unverstellt, ewig jung (trotz des Alters), ursprünglich daher. Der Sinn und Nutzen, gewissermaßen die Daseinsberechtigung von Übersetzungen soll damit indes keinesfalls angezweifelt, infrage gestellt werden. Vielmehr tritt neben die anverwandelnde, mal mehr ausgangs-, mal eher zielsprachenorientierte Übertragung das Original.
Diese Beobachtung, diese gefühlte Wahrheit in eine harte, statistische Münze zu prägen, oblag dem Interessensverband, der gegründet wurde, als Anton Philipp Reclam gerade zarte achtzehn Jahre alt war: dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels, in dessen Name noch immer ein wenig das lange 19. Jahrhundert mitschwingt. Umso mehr mühte man sich, den Anschluss an das 21. Jahrhundert nicht zu verpassen und gab vor wenigen Jahren eine Studie mit dem ungemein zukunftversprühenden Titel »Bock auf Buch!« in Auftrag, wobei allein das Ausrufezeichen als Wunsch und Aufforderung zugleich gelesen werden konnte. Ermutigt, vielleicht ein wenig selbstaffirmierend kam man zu dem Schluss: »30 % der 16- bis 19-jährigen Lesenden lesen (sehr) häufig Bücher in Originalsprache«. Die drei wichtigsten Beweggründe: »Ich möchte meine Sprachkenntnisse verbessern«, »Bei der Übersetzung geht etwas verloren (z. B. Witze, Wortspiele)« und »Ich möchte den Autor / die Autorin im Original lesen«. Weitere, teils auch genrespezifische Gründe seien, dass die Bücher nur im Original oder im Original früher verfügbar seien, womöglich gar noch günstiger; manchmal sei das Cover schöner und obendrein liege es im Trend, Bücher im Original zu lesen.
Was lag also näher, als die langjährige Expertise, die der Reclam Verlag im Bereich der fremdsprachigen Texte hat, nicht zuletzt etwa durch die »rote Reihe«, zu nutzen? Die Idee zu den »Reclam Originals« war geboren und alsbald umgesetzt: Unsere »Originale« sollten sich zum einen qualitativ von den übrigen Publikationen unterscheiden, indem wir großen Wert auf die Textgestalt, die editorische Erfassung legen würden. Ein schönes Cover sollte uns doch allemal gelingen – und wenn sich das Ganze obendrein zu einem günstigen Preis realisieren ließe … Hierfür bot sich eine Autorin in ganz besonderer Weise an, eine zeitlos-junge Jubilarin.
Es war kalt an jenem Samstag, eine gute Woche vor Weihnachten vor einem Vierteljahrtausend, kalt und sonnig. Das Eis auf dem zugefrorenen Teich knackte leicht unter den Schlittschuhen der Jungen, deren Atem kleine Nebelwolken aufsteigen ließ, als sie nach Hause gingen, wo ihre Mutter in den Wehen lag. An diesem Abend wurde Jane Austen geboren, das siebte Kind der Austens und das zweite Mädchen. Das Pfarrhaus des 200-Seelen-Dörfchens Steventon, wo sich Hampshire sanft hügelt, gibt es schon lange nicht mehr, und doch nähme es kaum jemand wunder, lebten Cassandra und George mit ihren Kindern noch immer dort. Und noch immer begeistern und bewegen die sechs mitunter scharffedrig verfassten Romane Jane Austens, mit denen sie – wenngleich mit einiger Verzögerung – Weltruhm erlangte. Eine Autorin, deren Werke sich für das Binge-Reading gleichermaßen eignen wie für ein repräsentatives Bücherregal.
Für dieses Original kam in besonderer Weise nur das Original infrage, und so eröffneten wir unsere neue Taschenbuchreihe der »Reclam Originals« mit den Texten »by a lady«. Und da Austen bis heute inspiriert, stellten wir ihren Texten gewissermaßen Patinnen an die Seite, die uns in ganz persönlichen Nachworten an ihrer Begeisterung für Austen teilhaben lassen. Manuela Inusa, Regina Meißner, Verena Roßbacher, Nicola Steiner, Constanze Wilken und Josi Wismar verbinden uns Lesende des 21. Jahrhunderts wunderbar leichtfüßig mit der Regency des frühen 19. Jahrhunderts.
Nach den Austen-Festspielen Ende dieses Jahres, an denen wir uns unter anderem auch mit einer einbändigen, schön gestalteten und hochwertig veredelten Schmuckausgabe aller zu Lebzeiten erschienenen Romane beteiligen, werden die »Originals« des kommenden Frühjahrs ganz im Zeichen von Texten des 20. Jahrhunderts stehen: Mit dem Kriminalroman The Ringer von Edgar Wallace, der Dystopie 1984 von George Orwell, dem Abenteuerklassiker The Call of the Wild von Jack London – und mit Virginia Woolfs Mrs Dalloway, einem der einflussreichsten Romane aller Zeiten.
Wer es etwas handlicher möchte, kann – im bestens bewährten Format der Universal-Bibliothek auf rund 142 Quadratzentimetern pro Seite, gleichwohl in einer ungemein farbenfrohen Neugestaltung – die originalsprachliche Welt mit den »Reclam Stories« entdecken, die ab dem kommenden Frühjahr mit Erzählungen von J. M. Barrie, Edgar Allan Poe, Robert Louis Stevenson und Edith Wharton startet.
Blättern wir noch einmal im Adelung, der zeigt, dass die »Originals« tatsächlich bestens eingebettet erscheinen: Einerseits publizieren wir diejenigen Texte, an denen wir uns »orientieren« können, die klassisch im besten Sinne sind (ohne freilich an dieser Stelle die große Frage eines literarischen Kanons und der Kanonbildung diskutieren zu können). Andererseits publizieren wir gleichermaßen Texte, über die der »Orkan« hinweggefegt ist, die womöglich keine Chance hatten, Eingang in den Kanon zu finden, im kulturellen Gedächtnis zu wurzeln. Und mittendrin das »Original«, das Bock auf Buch (mit dem obligatorischen Ausrufezeichen!) macht. Oder vielleicht in diesem Fall die »Originals«, die uns »in the mood for books« bringen.
Hans Peter Buohler
Programmleitung Belletristik und Sachbuch