DIE RECLAM BÜCHER-AUTOMATEN

Ein Bücherautomat

1912 – Zu den vertrieblichen Aktivitäten, mit denen der Verlag in den ersten Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts für sein Programm Aufmerksamkeit erregt und für den Buchhandel Maßstäbe setzt, gehört als besonderer Höhepunkt der Einsatz von Automaten für die Universal-Bibliothek. Der Gedanke, Bücher wie andere Markenartikel durch Automaten zu verkaufen, stammt aus Frankreich. Natürlich ist die Universal-Bibliothek durch ihr äußeres Format und die normierte Produktion, aber auch durch die Vielfalt des Programms, das je nach Standort des Automaten eine besondere Titelsortierung erlaubt, für diesen Verkaufsweg besonders geeignet. Reclam ist denn auch in Deutschland bis nach dem Zweiten Weltkrieg der einzige Verlag, der Automaten für seine Bücher einsetzt - der »bisher schärfste Versuch eines merkantilistischen Büchervertriebes« (Carl Christian Bry).

Ein Prospekt beschreibt den Automaten, der für den Sortimentsbuchhandel eine Art »selbständiges Filialgeschäft« ohne »große Anlagekapitalien und zu hohe Personalkosten« sein soll: »Die nebenstehende Abbildung veranschaulicht, daß der Bücherautomat eine von dem berühmten Kunstgewerbler Prof. Peter Behrens entworfene höchst vornehme und ansprechende äußere Form besitzt und wie ein Schaufenster wirkt, indem er zwölf verschiedene Bände zur Auswahl anbietet. Jedes einzelne Buch ist mit einem Streifband umgeben, auf dem in einer deutlichen Schrift mit kurzen prägnanten Sätzen der Inhalt erläutert, die Neugierde durch ein treffendes Urteil erregt oder eine Charakteristik des Autors gegeben wird - besser, als irgendein Verkäufer dazu in der Lage wäre, da er ja niemals über den einzelnen Band so genau unterrichtet sein kann. Die Auswahl wechselt fortgesetzt, denn bei jedesmaligem Kauf fällt der vorderste Band von einem der zwölf sichtbaren Stapel, und ein neues Buch lockt zur Auswahl und zum Kaufe. Da jeder Stapel 6-7 Bände enthält, bietet also ein einziger Apparat eine Auswahl von ca. 80 verschiedenen Büchern!«

Füllungen von jeweils 80 verschiedenen Nummern, wechselnde Titelzusammenstellungen, mit Streifbändern versehen, liefert der Verlag. Die Automaten können, so heißt es im Prospekt weiter, aufgestellt werden »nicht nur am Eingang zum Laden, in viel frequentierten Straßendurchgängen der Großstädte, in Cafés, Restaurants und Biergärten, auf Bahnhöfen und in Hotels, in Sommerfrischen und Badeorten, auf Schiffen und in Wartehallen, sondern auch in Krankenhäusern und Kasernen, in Lesehallen und Volkshäusern, in den Vorhallen der Theater und Schulen.«
 

Tatsächlich sind bis kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs rund 1000, bis 1917 fast 2000 Automaten in Betrieb. Der Absatz ist befriedigend und beträgt zwischen 1913 und 1923 jährlich etwa 1 bis 1,5 Millionen Bändchen. Es handelt sich vor allem um unterhaltende Titel, moderne Erzählliteratur, leichte Lektüre, die über die ›stummen Verkäufer‹ abgesetzt wird. Reclam versieht einen Markt, der nach 1950 vom neueren Taschenbuch bedient wird. Zugleich wird das Angebot der Reclam-Automaten als eine »neue Waffe gegen die Schundliteratur« an den Kiosken propagiert; beigelegte Zettel, die zu einem Urteil über das Buch auffordern und mit einem allmonatlichen Preisausschreiben locken, sollen der Leseerziehung dienen. Gegen technische Störungen an den Automaten läßt der Verlag zeitweise 4 bis 5 Monteure umherreisen. Größere Schwierigkeiten gibt es erst durch die Geldentwertung in der Inflation, wechselnde Preise oder einen 35-Pfennig-Preis bei auf Groschen eingestellten Automaten, schließlich bei einem Preis von 40 Pfennig durch den Umstand, daß nicht jeder Interessent stets vier Zehnermünzen bei sich hat. Gegen 1940 wird das Automatengeschäft eingestellt.

Für einen Vortrag zur Feier des 50jährigen Bestehens des Verbandes Deutscher Bahnhofsbuchhändler im Jahr 1955 hat Ernst Heimeran seine Erlebnisse mit dem Reclam-Automaten aufgeschrieben: »Ich will damit nur andeuten, was es für eine Sensation machte, als neben dem alten Automaten, dessen Süßigkeiten man in drei herausziehbaren Schubladen offeriert bekam, ein neuer Automat auftauchte, bei dem das Gewünschte in einen offenen Schlitz herunterfiel, sobald man an einem Griff zog. Und das Allererstaunlichste: dieser Automat lieferte nicht etwa Süßigkeiten, sondern eine ganz andere Art von Lebensweckern: Reclam-Hefte.

Ich probierte ihn sofort aus, das heißt, sobald ich zwanzig Pfennige beisammen hatte. Denn zum Unterschied vom alten Automaten gab er seine Waren nur zu zwanzig ab, nicht zu zehn. Und zwanzig Pfennige waren 1914 für einen Anfangspennäler, der noch dazu unterwegs schon an Automaten gezogen hatte, schon ein Stück Geld, das man sich erst verdienen mußte mit Jäten im Garten oder mit Kegelaufstellen. In einer anständigen Familie bekamen Kinder damals sonst kein Geld zur freien Verfügung.

Bis ich die zwanzig Pfennige beisammen hatte, konnte ich aber desto gründlicher studieren, was es dafür alles Herrliche zu kaufen gab. Es standen da bekanntlich mehrere Titel zur Auswahl, und wenn man ein Buch gezogen hatte, erschien darunter ein anderer Titel. Ich lauerte daher täglich, ob vielleicht unterdessen ein noch schönerer als der von mir in Aussicht genommene Titel zum Vorschein gekommen sei, zitterte aber auch, ob mir das Gewünschte nicht vielleicht vor der Nase weggeschnappt würde. Ich konnte beruhigt sein: der Absatz blieb, nach einem gewissen Anfangserfolg, recht schleppend, und ich sah oft dieselben Exemplare mehrere Ferien hintereinander im Automatenfenster, bis ich mich dann vielleicht ihrer erbarmte.

Bei meiner ersten Erwerbung schwankte ich lange, ob ich Schopenhauers Betrachtungen über die Weiber ziehen sollte, entdeckte diese Schrift dann aber gerade noch rechtzeitig im elterlichen Bücherschrank, in einem Band mit der rätselhaften Aufschrift Parerga und Paralipomena. Ich sag's ja immer: Schriftsteller, die solche Aufschriften auf ihre Bücher machen, sollen sich nicht wundern, wenn sie nur zufällig entdeckt werden. So konnte ich denn das andere gewählte Buch ziehen, von dem ich höchst sonderbarerweise sowohl den Autor wie auch den Titel vergessen habe. Ich weiß nur noch den Untertitel, und der lautete ›... und andere Humoresken‹. Es werden vielleicht die damals so beliebten Militärhumoresken des Freiherrn von Ompteda gewesen sein. Jedenfalls - und andere Humoresken, die mir den Eindruck machten: das kannst du auch. Ich verfaßte in das noch halbleere lateinische Schulheft, Klasse 2a, sofort eine Humoreske, über die ich in der Tat heute noch lachen muß, wenn ich daran denke. (Sie hieß Die Urne und begann: ›Neben meinem Bett steht eine Urne mit der Asche meines Urgroßvaters.‹ Wie Sie sehen, höchst unwahrscheinlich, und daher humoresk.«

In: Dietrich Bode: Reclam. Daten, Bilder und Dokumente zur Verlagsgeschichte. 1828-2003. Stuttgart: Reclam, 2003. S. 74–78.